Lesley Pearse
äußerst heruntergekommenen Wohnhäusern und vielen Gaunernestern. Dort war es noch elender und gefährlicher als in der Rosemary Lane. Sie vermutete, dass ihr Vater sie in der laubigen Stille des Kirchhofs treffen wollte, weil die Straßen, die hierher führten, breit und verhältnismäßig sicher waren. Sie rannte auf Lucas zu, und er stand eilig auf, um die Arme auszubreiten und sie aufzufangen, wie er es früher getan hatte, als sie noch klein gewesen war.
»Wunderschön siehst du aus«, bemerkte er, als er sich aus ihrer heftigen Umarmung befreit hatte. »Man sieht, dass sie dir gut zu essen geben, so rosig schaust du aus!«
Lucas haftete der seltsam ölige Flussgeruch an, den Matilda nur selten wahrgenommen hatte, als sie noch bei ihm gelebt hatte.
»Ich hatte heute Morgen einen kleinen Unfall«, berichtete er, als ihm auffiel, dass sie erstaunt seine nasse Hose und triefenden Stiefel betrachtete. »Der idiotische Soldat Lascar hatte Opium geraucht, das hätte ich mir eigentlich denken können. Er fragte mich, ob ich sein Schiff einholen könnte, das schon abgelegt hatte. Es hätte mich beinahe das Leben gekostet, ihn dorthin zu rudern. Als ich dann endlich neben dem Schiff war und seine Kameraden ein Seil zu ihm herabließen, ist er plötzlich wie ein Verrückter aufgesprungen, sodass das Boot umkippte.«
Matilda lachte. Selten gab es einen Tag auf der Themse ohne solche Begebenheiten, und die Zeit, in der Lucas seine Geschichten erzählte, war meist der beste Teil des Tages gewesen.
»Ich bin dann nach Hause und habe mir zumindest ein frisches Hemd angezogen. Wer möchte schon mit einem Fährmann fahren, der aussieht, als könnte er sein Boot nicht steuern?«
»Was ist mit Lascar? Hast du ihn ertrinken lassen?« Matilda kicherte.
»Nein, nein, er ist wie ein Affe am Schiff hochgeklettert. Glücklicherweise hat er mir vorher noch die Fahrt bezahlt.«
Sie suchten sich eine Bank in einem ruhigen Teil des Friedhofs. Matilda erzählte ihm alle Neuigkeiten in einem langen Monolog. Es erinnerte Lucas an Nells Erzählungen darüber, was der Kapitän zu Mittag gegessen, welche Gäste er eingeladen hatte und wie viel Wein getrunken worden war. Es war erschütternd, Matilda von Dingen wie Laken und Bettwäsche reden zu hören. Bis heute hatte Lucas vergessen, dass auch Nell solchen Luxus damals in seinem Haus eingeführt hatte – nach dem Feuer hatte sie mehr über den Verlust der Wäsche getrauert als über irgendetwas anderes.
»Madam sagt, dass ich jeden Samstag ein Bad nehmen soll«, beendete sie ihre Erzählung. »Jede Woche, Vater! Ich frage mich, ob meine Haut in ein paar Monaten nicht abgewaschen sein wird!«
Lucas lachte. Nell hatte das Baden auch geliebt, als sie noch in Aldgate gewohnt hatten. Eine seiner schönsten Erinnerungen war, als er einmal von der Arbeit gekommen war und Nell halb schlafend in der Wanne vorgefunden hatte. Ihre Haut war rosig und wohlriechend gewesen. Er wollte sie an Ort und Stelle lieben, aber sie bestand darauf, dass er zuerst zu ihr in die Wanne stieg. Sie wusch ihn dann wie ein kleines Kind von Kopf bis Fuß. Die folgende wunderschöne Nacht war ihm fest im Gedächtnis geblieben.
»Also bist du glücklich dort?«, wollte er wissen.
»Ja, das bin ich. Aber ich vermisse dich und die Jungen trotzdem«, meinte sie.
»Verschwende nicht deine Zeit mit Gedanken an uns«, ermahnte er sie scharf. »Wir kommen ganz gut ohne dich klar.«
Ihr Lächeln verschwand, und Lucas schämte sich. Doch wenn er ihr die Wahrheit erzählen würde – dass die Jungen seit Tagen nicht zu Hause gewesen waren, der Raum nicht mehr gefegt und das Feuer nicht angezündet worden war, seit sie fort war –, würde sie sich nur unnötig Sorgen machen.
»Luke hat sich etwas gebessert«, log er. »Vermutlich denkt er, er sei nun erwachsen. Aber erzähle mir doch von dem Buch, das du gerade liest.«
Matilda fühlte, dass er die Wahrheit vor ihr verbarg. Sie wollte ihm gern von Charles Dickens erzählen und dass er über die Armen schrieb und ihm die Gefahren, in die kleine Jungen geraten können, durchaus bekannt waren. Aber dann würde ihr Vater sicher bemerken, dass sie seine Lüge durchschaut hatte. Deshalb brachte sie ihn mit einer Beschreibung von Mr. Bumble, dem Waisenhausaufseher aus Oliver Twist, zum Lachen.
»Vielleicht kann ich es eines Tages mitbringen und dir daraus vorlesen«, schlug sie vor. Ihr Vater konnte nur ein paar Worte schreiben, ein ganzes Buch zu lesen läge außerhalb seiner
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