Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesley Pearse

Lesley Pearse

Titel: Lesley Pearse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo das Gluck zu Hause ist
Vom Netzwerk:
freier bewegen, da sie nicht so beengende Kleidung trugen. Die arme Tabitha konnte sich mit all ihren Unterröcken kaum auf dem Boden des Kinderzimmers niederlassen, um mit ihrer Puppe zu spielen, und nachmittags im Regents Park konnte sie nicht einfach draufloslaufen. Kein Wunder, dass sie so unruhig war.
    Dennoch lernte Matilda eine Menge und hätte es nie gewagt, solche Gedanken zu äußern. Am besten gefielen ihr die Spaziergänge am Nachmittag und die Stunde, bevor Tabitha ins Bett ging. Dann brauchte sie sich nicht mehr zu verstellen und durfte dem Mädchen Geschichten erzählen wie früher ihren Brüdern. Die Abende dagegen waren fürchterlich. Wenn sie nicht Silber polieren oder etwas flicken musste, war sie schrecklich einsam und dachte an ihren Vater. In diesen Momenten fragte sie sich, wie sie zu Hause ohne sie zurechtkamen. Manchmal vermisste sie den Lärm in den Straßen und wünschte sich, sie wäre wieder dort.
    Doch jetzt saß sie hier in der Kirche, sauber und mit vollem Magen. Mit Tabithas Hand in der ihren fühlte sie sich glücklich. Sie war sicher, dass Lily langsam begonnen hatte, ihr Vertrauen zu schenken, und war davon überzeugt, dass sie sie sogar mögen würde, sobald sie mehr von ihr gelernt hatte.
    Als sie etwas aufschnappte von »Teilt eure Güter mit den weniger Begünstigten«, schaute sie zu Giles hoch und sah, dass sein Blick lächelnd auf ihr ruhte. Sie erwiderte sein Lächeln. Es mochte sein, dass man es Lily schwer recht machen konnte und sie kaum zu durchschauen war, aber Giles war ein wahrer Gentleman. Er versuchte nicht, sie zum Glauben zu bekehren, wie sie eigentlich erwartet hatte, und bedankte sich für alles, was sie für ihn tat, selbst wenn sie ihm nur beim Hereinkommen den Mantel abnahm. Er fragte sie oft, wie sie vorankomme, und freute sich an ihren Lernerfolgen. Er hatte ihr sogar seine Ausgabe von Oliver Twist geliehen, als sie ihm gestanden hatte, dass sie nur den ersten Teil kannte. Sie mochte seine freundlichen dunklen Augen, seine vollen Lippen und seine langen, schlanken Finger. Sie dachte, dass Lily mit einem solchen Gatten die glücklichste Frau auf Erden sein musste.
    »Halt Tabithas Hand fest, und warte hier auf mich«, bat Lily Matilda, als sie die Kirche nach dem Gottesdienst verlassen hatten. »Ich muss mich mit ein paar Gemeindemitgliedern unterhalten.«
    Matilda war sehr erfreut, im Kirchhof warten zu dürfen. Es war die ideale Gelegenheit, die Menschen zu beobachten, die Giles »seine Herde« nannte. Tatsächlich hatten sie eine leichte Ähnlichkeit mit Schafen, fand Matilda, wie sie so eng aneinander gedrängt dastanden und dem Pfarrer und seiner Frau im Vorbeigehen einen Gruß entgegenblökten. Sie fragte sich flüchtig, ob die eleganten Herren in Zylinder, Frack und gebügelten weißen Hemden dieselben waren, die sie manchmal mit den leichten Mädchen am Arm auf dem Haymarket gesehen hatte.
    Matilda war sich bewusst, dass man sie von allen Seiten beobachtete, was ihr sehr unangenehm war. Aggie hatte ihr anvertraut, jeder in der Gegend wisse, dass Lily wegen ihrer Angst vor schrecklichen Krankheiten nie ein Kindermädchen eingestellt hatte. Die neugierigen Blicke verrieten, dass Matilda sicher das Hauptgesprächsthema während des Mittagessens sein würde.
    Sie hoffte, dass man sie nicht ansprach, denn wenn man sie reden hörte, würde man sofort ihre Herkunft erraten können. Noch während ihr dies durch den Kopf ging, fragte sie sich, warum sie sich daran stören sollte. Noch vor einer Woche hatte sie nicht im Traum daran gedacht, etwas anderes sein zu wollen als die Tochter eines Fährmanns. Wurde sie etwa langsam hochmütig?
    Es war sehr warm, als Matilda das Pfarrhaus an ihrem ersten freien Nachmittag verließ, um ihren Vater zu treffen. Sie trug ein neues Kleid, das Lily ihr an diesem Morgen geschenkt hatte. Es war das hübscheste, das sie je gesehen hatte. An manchen Stellen war es zwar etwas abgetragen, aber in Kombination mit dem Strohhut, den ihr Vater ihr gekauft hatte, fand sie, dass sie großartig und sehr damenhaft aussah.
    Sie ließ sich ein wenig Zeit und schaute in die Schaufenster. Dabei bewunderte sie eher ihr Spiegelbild in den Scheiben als die Auslagen. Es war fast fünf Uhr, als sie die St. Josephs Kirche erreichte – oder Holy Joe’s, wie sie von all ihren Bekannten genannt wurde. Ihr Vater wartete bereits auf sie und saß draußen auf einer Bank. Die Kirche grenzte an das berüchtigte Viertel Seven Dials, die Gegend mit

Weitere Kostenlose Bücher