Lesley Pearse
Dunkelheit lag und nachdachte. Sie hatte in den letzten fünf Monaten so viel erreicht. Nur noch selten kritisierte Lily ihre Tischmanieren. Sie konnte inzwischen kochen und backen – Aggie behauptete, ihre Kuchen würden genauso leicht gelingen wie ihre eigenen. Sie nähte inzwischen nahezu so sauber wie Lily und hatte dutzende Bücher gelesen. Sicher würde sie mit diesen Fähigkeiten schnell eine andere Stellung finden, aber sie liebte Tabitha, als wäre sie ihr eigenes Kind.
Lilys Vertrauen hatte sie schließlich gewonnen, als Tabitha an Krupphusten erkrankt war und Matilda Nacht um Nacht an ihrem Bettchen gewacht hatte. Sie hatte erreicht, dass Tabitha nahezu alles aß, hatte ihr Kinderlieder und einige Buchstaben des Alphabets beigebracht. Tabby liebte Matilda ebenso, und sie waren so glücklich und zufrieden miteinander, als wären sie Verwandte. Konnte Giles wirklich so unfreundlich sein, ihr die Tür zu weisen, ohne an die langsam zwischen ihnen entstandenen Bande zu denken?
Aggie hatte ihr öfter barsch erklärt, was für ein Glück sie hatte. In vielen Familien stand das Kindermädchen auf derselben Stufe wie die Küchenmagd, während Matilda beinahe wie ein Familienmitglied behandelt wurde. Sie wusste, dass Aggie Recht hatte, denn sie nahm die Mahlzeiten gemeinsam mit ihren Dienstherren ein, durfte ihre Bücher lesen und sich in ihren Garten setzen. Manchmal vertraute Lily sich ihr sogar an, besonders wenn es um Tabitha ging.
Sie musste weinen. Finders Court war zu einer verschwommenen Erinnerung geworden, genauso wie Hunger, Durst, Kälte und Schmutz. War sie diesem Ort nur entkommen, um wieder zurückgestoßen zu werden?
Am nächsten Morgen blieb Lily in ihrem Zimmer. Giles saß allein im Esszimmer, als Matilda mit Tabitha herunterkam. »Guten Morgen, Sir«, grüßte sie. Es war sogar noch heißer als am Vortag.
»Mrs. Milson geht es heute nicht gut«, erwiderte er ohne das gewohnte Lächeln und mit strengem Gesichtsausdruck. »Du kannst ihr später etwas zu essen bringen, und achte darauf, dass Tabitha sich ruhig verhält, damit Mrs. Milson etwas schlafen kann.«
Matilda wusste, dass er sich nicht um eine weitere Unterhaltung bemühen würde. Sie setzte Tabitha auf ihren Stuhl, legte ihr eine Serviette um und stellte eine Schüssel Milch und Brot vor sie.
»Will nicht essen«, quengelte Tabitha und schob die Schüssel von sich weg.
»Du wirst es essen«, erklärte Matilda und stellte die Schüssel zurück. »Wenn du es nicht isst, wirst du nichts anderes bekommen.«
Matilda spürte, dass Giles sie beobachtete. Sie wünschte, dass Tabitha heute keine Szene machen würde, denn sie war müde und fühlte sich ausgelaugt, nachdem sie die halbe Nacht wachgelegen hatte. Indem sie dem Kind jede Alternative auf ein anderes Essen verweigerte, hatte sie oft erreicht, dass es aß, was man ihm vorsetzte.
»Ich will nicht«, beharrte Tabitha und schob die Schüssel wieder von sich fort. Diesmal kippte sie jedoch um, und die Milch floss auf die Tischdecke.
»Ungezogenes Kind«, rief Matilda aus. »Schau, was du angerichtet hast. Ich sollte dir das Hinterteil versohlen.«
»Du wagst es, meiner Tochter mit Schlägen zu drohen?«, brach es aus Giles heraus. »Wenn du nur einen Finger gegen sie erhebst, kannst du dieses Haus für immer verlassen.«
»Es sieht ganz danach aus, als müsste ich das ohnehin bald«, gab sie zurück, geschockt von seiner unerwarteten Strenge. Doch sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, wünschte sie sich, sie könne sie greifen und wieder zurücknehmen. Unverschämtheit war etwas, was keiner der Milsons tolerieren würde. Außerdem hatte sie durchblicken lassen, dass sie gelauscht hatte.
»Entschuldigung, Sir«, bat sie schnell und errötete. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich würde Tabitha nämlich niemals schlagen. Es war nur schnell dahergesagt, weil ich etwas ärgerlich war. Außerdem wollte ich auch nicht Ihr und Madams Gespräch gestern Nacht belauschen, aber ich konnte gar nicht anders. Ihre Stimmen waren so laut.«
Ein kurzes, feindseliges Schweigen folgte, und Tabitha nutzte die Gelegenheit, um die Schüssel noch weiter fortzuschieben.
»Es ist zu heiß für sie. Ich gebe ihr etwas anderes zu essen«, entschied Giles schließlich, nahm ein Stück Brot, bestrich es mit Butter und Honig und schnitt es in kleine Stückchen. »Hier, Tabby, iss dies«, meinte er. Dann wandte er sich wieder Matilda zu. »Warum glaubst du, solltest du allein dastehen, wenn
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