Lesley Pearse
zu sein. Aber als sie sich erst einmal hingesetzt und darüber nachgedacht hatte, begann die Idee, ihr zu gefallen. Es wäre wundervoll, Tabitha wiederzusehen, und vielleicht würde sie auch James, Peter oder Sidney treffen können. In einem Moment reinen Leichtsinns sandte sie ein Antwort-Telegramm, in dem sie Tabitha ihr baldiges Kommen ankündigte.
Sobald sie es abgeschickt hatte, meldeten sich jedoch wieder Zweifel. War es ihr wirklich möglich, die Verwundeten zu pflegen? War sie inzwischen nicht zu alt, um Befehle von anderen anzunehmen? Dennoch war sie überzeugt, dass Tabitha einen guten Grund haben musste, sie um ihr Kommen zu bitten. Dolores würde nach den Mädchen, Mary und ihren Kindern sehen, und Fern könnte ihr dabei helfen. Sie hatte bereits eine verlässliche und vertrauenswürdige Frau für die Leitung des Jennings Büros gefunden. Sie wurde hier wirklich nicht gebraucht.
Erst als sie Washington erreichte, erfuhr sie den wirklichen Grund, warum Tabitha sie gebeten hatte herzukommen. Alle Unions-Hospitäler waren von der Federal Sanitary Commission organisiert, aber Dorothea Dix, die alle Krankenschwestern beaufsichtigte und stark von Florence Nightingales Pflegesystem im Krim-Krieg beeinflusst war, akzeptierte keine Schwestern, die jünger als dreißig Jahre alt waren. Sie befürchtete, jüngere Frauen würden in den Hospitälern nach Liebesromanzen suchen.
Tabitha war wild entschlossen, ihr medizinisches Wissen zur Linderung des Leidens der tausenden von Verwundeten anzuwenden. Allerdings hatte sie gewusst, die Federal Sanitary Commission würde sie ablehnen, wenn sie ihrer Bewerbung ihr Alter entnahmen – sie war inzwischen zweiundzwanzig. Deshalb hatte sie sich gleich an Dorothea Dix persönlich gewandt. Vielleicht fand die strenge Frau, die behauptete, alle Krankenschwestern müssten unscheinbar sein, dass Tabitha diesem Kriterium genügend entsprach. Vielleicht war sie auch zu weise, um zu verkennen, dass eine junge Frau, die bereit war, ihr Medizinstudium bis zum Ende des Krieges zu verschieben, eindeutig motiviert war. Jedenfalls wies sie Tabitha nicht sofort ab. Sie machte ihre Einstellung als Pflegeschwester jedoch von der Bedingung abhängig, dass Tabitha eine ältere Frau fand, die gewissermaßen als Anstandsdame neben ihr arbeitete.
Private Newton starb wenige Minuten, nachdem Matilda ihm den Brief vorgelegt hatte, um ihn zu unterschreiben. Sie schloss seine Augen, legte seine Arme auf der Brust übereinander und steckte die Zipfel seiner Strümpfe in der Art und Weise zusammen, wie sie es gelernt hatte. Aber sie küsste auch seine Wange und kümmerte sich nicht darum, dass Miss Dix ein solches Handeln als unprofessionell bezeichnet hätte. Als sie den Raum verließ, um eine Bahre zu organisieren, wanderten ihre Gedanken zu dem Tag zurück, an dem sie hier in Washington angekommen war.
Es war ein grauer, feuchter Novembertag gewesen, aber sie war so aufgeregt, schließlich in Washington angekommen zu sein, dass sie ihren Kopf aus dem Fenster lehnte, während der Zug in den Bahnhof einlief. Der aufsteigende Rauch und Dampf behinderte ihre Sicht für eine Minute oder zwei, aber selbst durch den Lärm der ratternden Räder auf den Schienen konnte sie hunderte von Stimmen hören.
Als sich der Rauch legte, sah sie ein Meer von blau uniformierten Männern auf Bahren oder mit Krücken. Viele von ihnen hatten ein Bein verloren, eine Augenklappe oder einen bandagierten Arm. Matildas Beine verwandelten sich zu Pudding, und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Wenn es diesen Männern gut genug ging, um irgendwohin transportiert zu werden, wie sahen dann die Männer aus, die in den Krankenhäusern geblieben waren? Sie zog den Mantel enger, setzte sich ihren schmucklosen Hut fest auf den Kopf, atmete tief ein und nahm ihren kleinen Koffer aus dem Gepäcknetz, um aus dem Zug zu steigen.
Es war ein Furcht einflößender und überwältigender Moment, die Verletzten aus der Nähe zu sehen. In den Zeitungen über all die Verwundeten zu lesen hatte sie nicht ausreichend auf diesen Anblick vorbereitet. Ein junger Mann auf einer Trage streckte ihr die Hand entgegen, als verwechselte er sie in seinem Schmerz mit seiner Mutter.
Doch dann hörte sie ihren Namen, und schon lief Tabitha durch die Menge der Männer, um sie zu begrüßen. Es war zu spät, um umzukehren. »Oh, Matty«, rief Tabitha aus, bevor sie sie in einer warmen, herzlichen Umarmung umschloss. »Ich kann dir gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher