Lesley Pearse
gewöhnten sich an die langen Stunden im Krankenhaus, an die harte Arbeit. Sie fanden sich damit ab, das Ekel erregende Essen im Hospital zu essen und in ihrem engen, freudlosen Raum zu schlafen. Aber es war das Gefühl der Hilflosigkeit, das sie und die anderen Schwestern am meisten berührte und nie verließ. Selbst die zärtlichste und aufmerksamste Pflege konnte nur wenige Patienten retten. Sie hatten lediglich die Möglichkeit, ihnen die letzten Stunden auf dieser Welt zu erleichtern. Sobald ein Mann gestorben und sein Leichnam fortgebracht worden war, nahm ein anderer seinen Platz in dem Bett ein.
Manchmal, wenn Matilda und Tabitha das Krankenhaus am frühen Abend verließen, mussten sie sich erst einmal irgendwo hinsetzen, um frische Luft einzuatmen und sich auszuruhen, bevor sie die Kraft fanden, nach einer zwölfstündigen Schicht nach Hause zu laufen. Erst wenn sie gemeinsam im Bett ihres kleinen Zimmers lagen, redeten sie miteinander. Sie ließen die Vergangenheit Revue passieren, erinnerten sich an Tabithas Kindheit, Primrose Hill, die Reise nach Amerika und die Zeiten in New York und Missouri. Es waren die glücklicheren Momente, über die sie am häufigsten sprachen, lustige Anekdoten über den Treck nach Oregon und die sorglosen Monate, die sie mit John und Cissy in der Hütte verlebt hatten.
Nach und nach erzählte Matilda Tabitha auch von den Dingen, die sie ihr als Kind vorenthalten hatte. Sie erklärte, warum sie vorgegeben hatte, ein Restaurant zu leiten, und wer Zandra eigentlich gewesen war. Auch berichtete sie, warum es sie gedrängt hatte, jungen Prostituierten zu helfen, wie es zu ihrer Liebesaffäre mit James gekommen war und dass es ihr gleichgültig war, wenn sie ihn nicht heiraten könnte, solange sie nur ihr restliches Leben mit ihm verbringen konnte.
Nur wenige Jahre zuvor hätte Matilda sich niemals vorstellen können, über diese Dinge mit Tabitha zu reden, denn es hatte immer eine klare Grenze zwischen Frau und Kind gegeben. Aber Tabitha war inzwischen selbst eine Frau. Sie mochte zwar von den härteren Aspekten des Lebens verschont geblieben sein, denen Matilda begegnet war, und bisher nie eine leidenschaftliche Liebesaffäre erlebt haben, doch sie war verständnisvoll, intelligent und hatte die Gabe ihres Vaters geerbt, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.
»Als du in meinem Alter warst, hattest du schon so viel erlebt«, bemerkte Tabitha eines Nachts, als sie im Bett lagen. »Ich dagegen im Vergleich noch nichts.«
»Du meinst also, es sei nichts, Medizin zu studieren?«, rief Matilda aus. »Ich denke, es ist mehr wert als alles, was ich je erlebt und getan habe.«
»Aber selbst wenn ich den Abschluss machen sollte, werde ich niemals praktizieren können«, wandte Tabitha mit verzweifelt klingender Stimme ein. »Nun ja, wahrscheinlich werde ich bei Geburten helfen oder vielleicht die Armen in den großen Städten versorgen dürfen. Weibliche Ärzte sind für viele Menschen einfach inakzeptabel.«
»Das wird sich ändern«, erklärte Matilda mit fester Stimme. »Warte einfach ab! Vielleicht noch nicht in den nächsten Jahren, aber ich bin sicher, es wird passieren. Die meisten Frauen würden eine Ärztin bevorzugen, wenn sie die Wahl hätten.«
»Ich dachte, du würdest sagen, ich werde in ein paar Jahren verheiratet sein und nach meinen eigenen Kindern sehen müssen. Zumindest meinen das die meisten Leute«, antwortete Tabitha.
»Das musste ich mir auch ständig anhören«, Matilda lachte sanft. »Ich merke, dass ich alt werde, weil heute keiner mehr davon spricht.«
»Hättest du es denn gewollt?«
»Ja, mehr als alles in der Welt«, gab sie zu. »Und was ist mit dir?«
»Wenn ein ganz besonderer Mensch auf der Bildfläche erscheinen würde.« Ihre stockende Stimme verriet, dass dies etwas war, worauf sie hoffte. »Und wenn ich für ihn genauso empfinden würde wie du für Papa und heute für James. Aber ich ziehe die Männer nicht an, Matty. Ich glaube, ich bin zu clever und zu unscheinbar.«
»Das ist es nicht«, erklärte Matilda schnell. Sie hatte bemerkt, wie respektvoll die Männer auf Tabitha zugingen, und wusste, was es zu bedeuteten hatte. »Sie erkennen vielmehr in der ersten Minute, dass du etwas äußerst Wichtiges zu tun hast. Daran liegt es.«
Tabitha schwieg einen Moment, als ließe sie sich Matildas Worte durch den Kopf gehen. »Weißt du, was das Beste an dir ist, Matty?«
»Nein, verrate es mir«, flüsterte Matilda.
»Dass du
Weitere Kostenlose Bücher