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Lesley Pearse

Lesley Pearse

Titel: Lesley Pearse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo das Gluck zu Hause ist
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sagen, wie stolz ich war, als ich dein Telegramm erhielt. Ich saß wie auf heißen Kohlen und war überzeugt, du würdest nicht kommen.«
    Die Angst verließ Matilda, als Tabitha sie in den Armen hielt. »Wann konnte ich dir schon jemals einen Wunsch abschlagen?«, gelang es ihr zu sagen. Plötzlich wusste sie, dass sie versuchen musste, so mutig wie Tabitha zu sein, wenn sie mit ganzem Herzen in die Pflege der Verwundeten einsteigen wollte.
    Der erschreckende Anblick all der Verwundeten um sie herum kehrte mit einem Mal all das hervor, was sie für Tabitha empfand. Sie hatte sie geliebt, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Einige der glücklichsten Stunden ihres gesamten Lebens – und auch einige der traumatischsten – hatte sie in Tabithas Beisein verlebt. Indem sie jetzt bei ihr war, konnte sie aus Giles’ und Lilys Stärken schöpfen, die auch Tabitha zur Genüge besaß.
    Tabitha ließ sich nicht im Geringsten durch all die Männer um sie herum beirren. Sie hätte sich ebenso gut auf einem geschäftigen Marktplatz befinden können. »Ich habe uns Unterkünfte besorgt«, berichtete sie und nahm Matildas Tasche in eine Hand, während sie ihren freien Arm bei Matilda unterhakte. »Es sind nicht gerade die besten, fürchte ich, aber die Leute hier sind nicht besonders gut auf Krankenschwestern zu sprechen. Ich vermute, sie haben Angst, wir bringen Krankheiten mit nach Hause.«
    Sie erzählte in diesen ersten Minuten so viel, dass es für Matilda ein einziges Durcheinander war. Das Einzige, was sie zunächst verstand, war, dass sie auf der Station A1 arbeiten würden, wohin die am schwersten Verletzten gebracht wurden. Tabitha hatte man dort wegen ihres medizinischen Wissens eingesetzt und Matilda ihrer Reife wegen.
    Erst als sie die Menschenmengen hinter sich gelassen hatten, blieb Matilda stehen und hielt Tabitha am Arm fest. »Lass mich erst einmal einen Blick auf dich werfen, bevor wir irgendwohin gehen.«
    Tabitha kicherte. »Ich sehe nicht anders aus als damals in Ohio, wo wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
    »Das werde ich doch noch selbst entscheiden dürfen«, entgegnete Matilda. »Ich habe so viel von der Zeit versäumt, in der du vom Mädchen zur Frau gereift bist. Ich habe also das Recht, dich eingehend zu betrachten.«
    Sie war einige Zentimeter größer als Matilda und dünner als damals in Ohio. Ihr einfacher grauer Rock ohne Reif, den Miss Dix für all ihre Krankenschwestern vorschrieb, ließ ihre Haut fahl aussehen. Die strenge Frisur, ein Mittelscheitel mit zwei geflochtenen Zöpfen über ihren Ohren, schmeichelte ihr auch nicht gerade. Aber ihre ausdrucksstarken dunklen Augen, die schon als Kind ihr Gesicht bestimmt hatten, waren wunderschön.
    »Das Äußerliche ist unwichtig«, meinte Tabitha mit einem Hauch von Empörung in der Stimme. »Ich hoffe, du hast nicht erwartet, ich hätte mich in eine Schönheit verwandelt?«
    »Tabby, meine Liebe«, Matilda lachte. »Für mich wirst du immer eine Schönheit sein. Allein die Tatsache, dass du hier bist und die Verwundeten pflegen möchtest, reicht aus, um mir zu zeigen, dass ich ein gutes Kindermädchen war. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich auch eine gute Krankenschwester sein werde.«
    Als Matilda die Station verließ, sah sie Tabitha am letzten Bett vornübergebeugt stehen und den Stumpf eines amputierten Beines waschen. Solch ein Anblick verursachte ihnen heute kein Unbehagen mehr. Es waren die gewöhnlichen Aufgaben, die sie Tag für Tag zu erledigen hatten. Aber vor sieben Monaten, am ersten schrecklichen Tag auf der Station im Krankenhaus, war angesichts solcher Verletzungen Übelkeit in ihnen aufgestiegen, und sie hatten ihre Augen abwenden müssen.
    Matilda hatte alle schrecklichen Eindrücke dieses ersten Tages fest und für immer in ihrem Gedächtnis bewahrt. Aber in den folgenden Wochen hatte sie sich an die verschiedenen Verletzungen, an den Anblick von Blut und die Schmerzensschreie gewöhnt. Es standen wenig Medizin und Wäsche und keine Betäubungsmittel zur Verfügung. Sie hatten erfahren, dass die Männer zunächst in die grausamen Feldlazarette transportiert wurden. Diese waren für den größeren Teil des Schreckens verantwortlich. Dort verbluteten die Männer, weil kein Verbandsmaterial zur Verfügung stand, und die mangelnde Hygiene forderte so manchen tragischen Tribut. Gliedmaßen wurden dort meist amputiert; die wertvolle Zeit wurde selten darauf verwandt, Kugeln herauszuoperieren.
    Tabitha und Matilda

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