Lesley Pearse
die Ankunftsstation für Immigranten gewesen, heute beherbergte es ein Aquarium. Achtzehnhundertzweiundvierzig jedoch war es eine Konzerthalle gewesen, umgeben von einem kleinen Park, und dort hatte sie Flynn O’Reilly das erste Mal getroffen.
Sie schloss ihre Augen für einen Moment und dachte an seinen ersten Kuss. Seltsamerweise spürte sie nach all den Jahren immer noch genau seine Magie und erinnerte sich an die emotionalen Turbulenzen, die er damals ausgelöst hatte.
»Ich frage mich, was wohl geschehen wäre.« Sie hatte laut gedacht.
»Wem wäre was geschehen, Ma’am?«
Sie war erschrocken, als sie das junge Mädchen wahrnahm, das neben ihr saß und sie fragend anschaute. Aber sie schämte sich nicht. Sie empfand es als einen der wenigen Vorteile des Alters, sich jederzeit die Freiheit nehmen zu können, genau das zu tun, was einem gefiel, sogar Selbstgespräche zu führen.
»Was mir passiert wäre, wenn ich mit meiner ersten Liebe davongelaufen wäre«, erklärte sie mit einem warmen Lächeln. »Mein Leben wäre wohl etwas anders verlaufen.«
Fanny war erfreut, dass die alte Dame reden wollte. Abgesehen davon, dass sie ungemein neugierig auf die Geschichte dieser seltsamen Passagierin war, hatte sie bei ihrer Arbeit meist mit Männern zu tun, und sie sehnte sich oft nach weiblicher Gesellschaft. Deshalb war sie auch mit einer warmen Decke auf die Dame zugegangen, um zu schauen, ob sie fror, aber hauptsächlich, um ein Gespräch anzufangen.
»War er reich?«, hakte sie nach, bemüht um einen leichten Tonfall.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. »Oh, nein. Nur ein armer irischer Junge.«
»Dann war es gut, dass Sie nicht mit ihm davongelaufen sind«, erwiderte Fanny. »Es gibt verdammt wenige Iren, die hier reich werden. Doch viele Brauereien haben ihren Reichtum der Trinksucht der Iren zu verdanken.«
»Es mag sein, dass sie viel trinken, aber ganz sicher sind sie gute Liebhaber«, antwortete die alte Dame. »Ich denke, mir ist Leidenschaft wichtiger als Reichtum.«
Für einen Moment war Fanny verblüfft. Obwohl sie von Leuten ihres eigenen Schlages derbe Kommentare über das andere Geschlecht gewohnt war, hätte sie so eine Bemerkung nie von einer richtigen Dame erwartet. Sie bot ihr die Decke an und erklärte, dass der Wind stärker werden würde, wenn sie erst in die Bucht hinausgefahren waren, und legte sie der Dame über den Schoß. Sie holte einmal tief Luft und platzte schließlich mit ihrer Frage heraus: »Warum wollten Sie hier rausfahren, Ma’am?«
Die alte Dame schaute Fanny für einen Moment prüfend an. Sie trug einen fadenscheinigen, viel zu großen Seemannsmantel und hatte einen dicken gestreiften Schal um Kopf und Hals geschlungen. Ihre Nasenspitze war von der Kälte gerötet, aber ihre Augen blitzten sie interessiert an. Sie dachte, dies war wohl noch eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen, sie selbst war auch immer extrem wissbegierig gewesen.
»Ich glaube, das Alter macht einen ganz schön sentimental. Ich wollte mir all die Veränderungen ansehen«, sagte sie und zeigte mit ihrer behandschuhten Hand in Richtung Ufer. »Weißt du, Liebes, ich war so alt wie du jetzt, als ich das erste Mal nach New York kam. Ich habe zwar nur ein paar Jahre hier gelebt, aber das hat mein gesamtes Leben geprägt und beeinflusst. Jetzt zieht es mich wieder nach Hause, und ich wünsche mir, dass ein paar neue Erinnerungen zu den alten hinzukommen, wenn ich fahre.«
»In welchem Bundesstaat sind Sie denn zu Hause?«, wollte Fanny wissen.
Die alte Dame lachte.
»In welchem Bundesstaat sind Sie zu Hause?« Sie wiederholte die Frage und imitierte dabei Fannys Akzent. Dann musste sie wieder lachen. »Mädchen, du gefällst mir. Ein halbes Jahrhundert habe ich Gott weiß was getan, um wie eine Amerikanerin zu klingen und zu handeln. Aber sobald ich meinen Mund geöffnet habe, hat immer jeder gleich erraten, dass ich Engländerin bin. Jetzt stehe ich kurz vor der Heimfahrt, und du hältst mich für einen Yankee. Du bist ein Schatz.«
»Da bin ich aber platt.« Fanny sank auf die Bank neben ihr. Sie hatte zwar etwas Ungewohntes in der Stimme der alten Dame bemerkt, aber in New York gab es genauso viele Akzente wie Bars. »Ich hatte den Eindruck, Sie kämen von einem dieser schicken Häuser auf der Fifth Avenue! Bitte, erzählen Sie mir doch ein bisschen von sich. Das heißt, natürlich nur, wenn Sie Lust haben.«
»Mein Name ist Matilda Jennings«, entgegnete die
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