Lesley Pearse
Schwester nichts gemein außer den gleichen leuchtend blauen Augen. Matilda hatte sich seit der Geburt der Jungen um sie gekümmert, aber seit Peggy vor vier Jahren gestorben war, hatte sie auch die Mutterrolle übernommen. Sie hatte Peggy nie gemocht, und oft konnte sie auch ihre Söhne nicht leiden, doch ihres Vaters wegen tat sie nur das Beste für sie.
Als sie Luke näher an sich heranzog, verschlug sein Geruch ihr den Atem. »Was hast du bloß wieder angestellt?«, keuchte sie. Doch Luke brauchte ihr eigentlich nichts zu erklären. Sein Gestank sprach für sich. »Ihr verlausten Bengel, ihr habt wieder Hundedreck gesammelt.«
Nur die Menschen, die wirklich keine andere Überlebenschance mehr hatten, sammelten die Exkremente von Hunden ein und verkauften sie an Gerber, die damit ihr Leder bearbeiteten. Es gab eine Menge abstoßender Möglichkeiten, Geld zu verdienen, aber diese war sicher die schlimmste.
Matilda stellte ihren Korb ab und zog beide Jungen an den Ohren zur Wasserpumpe, an der ein einfältiger Bursche gerade seinen Krug füllte. Sie wies ihn an weiterzupumpen und hielt Lukes Kopf unter den Wasserstrahl. Sie packte ihn beim Schopf, holte einen Lumpen unter ihrer Schürze hervor und begann, ihn vom Kopf bis zu seinen schmutzigen Füßen abzuschrubben.
»Es ist eiskalt«, wimmerte er mit klappernden Zähnen, bis sie schließlich von ihm ließ, um die ganze Prozedur mit George zu wiederholen. »Außerdem haben wir es nur für dich getan. Wir haben einen ganzen Sixpence verdient.«
Wäre diese Erklärung von irgendeinem anderen Kind gekommen, wäre Matilda wahrscheinlich gerührt gewesen. Doch Luke war ein notorischer Lügner und jetzt schon ein unverbesserlicher Schurke. Ihr war klar, dass er und sein Bruder das Geld ausgegeben hätten, wenn sie die beiden nicht erwischt hätte. Obendrein hätten sie bestimmt gewartet, bis sie schlief, und wären dann stinkend zu ihr ins Bett gekrochen. Doch weil so viele Leute zuschauten, antwortete sie nicht, bis sie beide Jungen, immer noch triefend nass und zitternd, in die Wohnung gebracht hatte.
»Zieht eure Nachthemden an!«, sagte sie nur, während sie die Tür hinter sich zuzog. »Ich werde euch mal was erklären, wenn ich das Feuer in Gang gebracht habe. Und untersteht euch wegzulaufen!«
Im Raum war es dunkel, weil eines der Fenster zerbrochen und die Öffnung mit einem Holzstück verschlossen worden war. Es gab nicht viele Möbel: Ein Bett, in dem sie und die Jungs schliefen – Lucas, ihr Vater, schlief in einem improvisierten Bett aus Strohsäcken –, eine Bank, ein grober Holzschrank und ein kleiner Tisch waren alles, abgesehen vom Stuhl ihres Vaters. Er war aus massiver Eiche gefertigt, mit Armlehnen und einer durch die ständige Benutzung glatt polierten Sitzfläche. Der Stuhl war das einzig wertvolle Stück, das sie besaßen.
Nach kurzer Zeit hatte Matilda das Feuer in Gang gebracht. Sie wärmte ihre eiskalten Hände und überlegte, was sie ihren Brüdern sagen wollte. So grässlich Finders Court wohlhabenderen Menschen auch erscheinen mochte, Matilda konnte sich dennoch damit trösten, dass sie in einem der besseren Mietshäuser der Nachbarschaft wohnten. Hier wurden wenigstens nicht für einen Penny Schlafplätze an die Ärmsten der Armen vermietet. Sie kannte Häuser, in denen man bis zu dreißig Leute in einen Raum pferchte. Die armen Menschen hatten nicht einmal einen Stofffetzen, mit dem sie sich zudecken konnten. Dort schliefen Waisen von sechs Jahren und Kinder, die von zu Hause fortgelaufen waren, neben Kriminellen, Prostituierten, Bettlern und Schwachsinnigen. Waren die Kinder erst mal in solchen Häusern untergebracht, waren sie unweigerlich verloren und verdorben.
Matilda war ein intelligentes Mädchen. Ihr Beruf führte sie in die besseren Londoner Viertel, und sie hatte viele Aspekte der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich kennen gelernt. Einer der wichtigsten war, dass die reichen Kinder beschützt wurden. Dagegen fühlten sich die Armen oft schon nicht mehr für ihre Kinder verantwortlich, bevor sie Lukes Alter erreicht hatten. Sie erwarteten von ihnen, sich selbst versorgen zu können. Obwohl Matilda nichts dagegen einzuwenden hatte, dass ihre Brüder arbeiteten – schließlich war sie selbst schon seit ihrem zehnten Lebensjahr Blumenverkäuferin –, hielten sie und ihr Vater es für ihre Pflicht, den Kindern ein Zuhause zu bieten, bis sie reif genug waren, mit den Versuchungen und Gefahren Londons umgehen zu können. Mit
Weitere Kostenlose Bücher