Lesley Pearse
Gastraum waren noch geschlossen, aber trotz des vernachlässigten Erscheinungsbildes dominierte es den Hügel noch immer und erinnerte sie daran, was für eine wichtige Rolle es in dieser Stadt gespielt hatte.
Ein großer brauner Hund lag auf der Veranda. Als Sidney mit dem Einspänner vorfuhr, stand er auf, streckte sich und gähnte ausgiebig, bevor er zur Begrüßung einen Satz auf Sidney zu machte. Treacle war sehr alt gestorben, nachdem Matilda nach Washington gegangen war, und sie vermutete, dass Mary diesen Hund als Ersatz gekauft hatte.
»Das ist Lincoln«, meinte Sidney, während er ihn streichelte. »Sag Hallo zur Chefin, Lincoln. Komm, so wie ich es dir beigebracht habe!«
Der Hund streckte ihr eine Pfote entgegen und sah sie fragend an. Matilda nahm seine Pfote und schüttelte sie. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Lincoln. Hoffentlich werden Sie nicht auch erschossen!«
Die Tür schwang auf, und Mary trat mit weit geöffneten Armen heraus. Ihr Lächeln war breit und herzlich. »Matty«, jubelte sie und lief die Treppe hinunter, um sie zu umarmen.
Eine oder zwei Stunden später dachte Matilda, ihre Haut wäre von den vielen Umarmungen und Küssen, die sie empfangen hatte, schon ganz wund geworden. Das Wohnzimmer war mit einem Banner geschmückt worden, auf dem die Worte Willkommen zu Hause zu lesen waren, und chinesische Laternen, Papierwimpel und viele Blumen zierten den Raum. Der Tisch war gedeckt, köstliches Essen wurde aufgetragen, und es trafen immer mehr Menschen ein, um sie zu begrüßen.
Peter humpelte noch und brauchte zum Laufen einen Stock, aber er sah wieder stark und gesund aus. Mary erwartete inzwischen ihr drittes Kind, und Matilda erschien es unglaublich, dass Elizabeth schon vier Jahre alt war. James, das Baby, bei dessen Geburt sie vor ihrer Abreise nach Washington geholfen hatte, war inzwischen drei Jahre alt und konnte schon sprechen und laufen. Beide Kinder hatten das rote Haar ihres Vaters und Marys Locken sowie das heitere Gemüt ihrer Eltern.
Dolores’ Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und sie sah genauso ernst aus wie eh und je. Aber als sie Matilda umarmte, brach sie in Tränen aus. »Ich habe Sie so vermisst, dass ich manchmal gefürchtet habe, den Verstand zu verlieren«, gestand sie leise und mit rauer Stimme.
Doch es war Fern, die Matilda am meisten überraschte. Sie hatte sich in ihrer Abwesenheit von dem dünnen Mädchen in eine wunderschöne Frau verwandelt. Ihre kupferfarbene Haut schimmerte zart, ihr Körper hatte sinnliche Rundungen angenommen, und ihre beseelten Augen waren von dichten, dunklen Wimpern umrahmt. Ihr schüchterner, ängstlicher Blick war für immer verschwunden, und sogar in männlicher Gesellschaft war sie selbstbewusst und ausgeglichen. Matildas Herz schwoll vor Stolz an, als sie Fern betrachtete.
Den ganzen Tag kamen und gingen die Leute. Henry Slocum, der inzwischen zwei Gehstöcke benötigte und alt geworden war, war außer Rand und Band, Matilda wieder zu Hause zu haben. Ladenbesitzer, frühere Goldgräber und sogar ein paar der Geschäftsleute, denen sie im Jahre achtzehnhundertfünfzig Holz verkauft hatte, kamen zu Besuch. Sie hatte angenommen, es würde sehr schmerzhaft sein, wenn jemand von James sprechen und ihr zu seinem Tod kondolieren würde, aber es wurde über ihn geredet, und das ehrlich gemeinte Mitgefühl ihrer Freunde vertrieb die Leere in ihrem Herzen.
In dieser Nacht teilte sie ihr früheres Bett mit Elizabeth. Während sie dalag, die Arme um das schlafende Kind gelegt hatte und sein seidiges Haar streichelte, vergoss sie zum ersten Mal Tränen der Freude. Keiner würde jemals Amelias und James’ Platz einnehmen können, aber sie erkannte jetzt, dass es noch viel gab, für das es sich zu leben lohnte.
Um sieben Uhr am nächsten Morgen war sie bereits angezogen und saß an ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer. Im Haus herrschte völlige Stille, alle schliefen noch, aber dann kam Peter herein. Er trug Nachthemd und einen Morgenmantel.
»Ich dachte, du würdest dich nach dem Tumult gestern etwas ausruhen«, sagte er. »Konntest du nicht schlafen?«
»Ich habe geschlummert wie ein Baby«, sie lächelte. »Aber ich musste aufstehen. Es gibt so viele Dinge, mit denen ich beginnen möchte.«
»Schon?«, stöhnte er. »Willst du nicht erst einmal zu Atem kommen?«
Matilda war sehr dankbar für diese Gelegenheit, allein mit Peter sprechen zu können. Er war der Einzige, der gestern nicht James’ Namen erwähnt
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