Lesley Pearse
leer.
Tabitha hatte sie oft nach ihren Gefühlen gefragt. Sie war sehr besorgt gewesen, weil Matilda kaum aß, wenig schlief, und sie konnte es kaum mit ansehen, dass sie so dünn und ausgezehrt war. Matilda hatte versucht, ihren Zustand zu erklären, aber ihr hatten die Worte gefehlt. Worte konnten ihre Lage in ihrem ganzen Ausmaß nicht annähernd beschreiben.
Nichts war wie zuvor, seit James von ihr gegangen war. Der Geschmack von Essen, der Geruch der Blumen, das Singen der Vögel erschienen ihr auf seltsame Weise weniger intensiv. Hitze und Kälte, die Jahreszeiten, Freude und Unbehagen bewegten sie nicht. Es war, als wäre sie in eine Luftblase eingeschlossen, in der sie zwar alles sehen und hören konnte, aber durch nichts berührt wurde.
Sie hatte die wilde Aufregung in Washington über das Ende des Krieges wie aus der Ferne zur Kenntnis genommen, unfähig zu verstehen, warum die Freude und das Glück nicht auch auf sie übergingen. Sie war zwar froh, dass die Soldaten zu ihren Frauen und Familien zurückkehren konnten, und wirklich erleichtert, dass es keine weiteren Verwundeten geben würde. Aber wie sollte sie sich über einen Sieg freuen, der auf Kosten von sechshunderttausend Toten errungen worden war?
Während die Menschen in Washington feierten, sich umarmten und küssten, hatte sie nur ein einziges klares Bild vor Augen. James’ Beerdigung und die gerade ausgehobenen, endlos langen Grabreihen, in denen teilweise schon Tote lagen, während die anderen noch leer waren und bald einen Leichnam aufnehmen würden. Matilda glaubte nicht, dieses Bild jemals aus ihrem Gedächtnis vertreiben zu können.
Tabitha war jetzt nach Ohio zurückgekehrt, um ihr Medizinstudium wieder aufzunehmen. Als sie sich in Washington getrennt hatten, hatte Matilda ihretwegen vorgetäuscht, sich auf ihre Rückkehr nach San Francisco zu freuen. In Wahrheit war es ihr jedoch eigentlich gleichgültig, wohin sie ging. Wenn sie als Krankenschwester in eine andere Stadt geschickt worden wäre, hätte sie die Aufgabe dankbar angenommen. Es war leichter, unter Fremden zu sein, als den Menschen zu begegnen, die sie liebte.
Während eine Reihe verschiedener Züge sie quer durch Amerika gebracht hatte und Kalifornien langsam näher rückte, sagte sie sich, dass sie aus dieser Apathie erwachen und in die Zukunft blicken müsste. Sie hatte Glück, überhaupt ein Zuhause zu haben, in das sie zurückkehren konnte. Der gesamte Süden hingegen lag in Trümmern, die Menschen dort verhungerten, ihre Häuser waren geplündert, ihre Saat vernichtet, und viele Frauen hatten nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Söhne verloren.
Sidney hatte großes Glück gehabt. Er war wegen seiner Fußverletzung und einer anschließenden Entzündung nach Hause geschickt worden. In seinem letzten Brief hatte er ihr geschrieben, dass sie Peters Rückkehr freudig erwarteten. Sie wusste, eigentlich sollte sie schon Pläne für die Zukunft schmieden, denn sie musste London Lil’s und das Jennings Büro wiedereröffnen und sich um die Mädchen in der Folsom Street kümmern. Aber stattdessen starrte sie nur aus dem Fenster und ließ die Welt an sich vorüberziehen, ohne die Landschaft wahrzunehmen.
Erst als sie in Denver in diese Kutsche gestiegen und an einem Hotel vorbeigefahren war, in dem sie einmal mit James übernachtet hatte, fühlte sie etwas. Sie waren damals so glücklich gewesen, und sie wusste, er würde nicht wollen, dass sie weiter so um ihn trauerte. Sie konnte ihn fast flüstern hören: »Es wird immer Menschen geben, die auf deine Stärke angewiesen sind, Matty. Du darfst sie nicht enttäuschen!«
Plötzlich machte die Kutsche einen Schlenker zur Seite, woraufhin allen Reisenden der Atem stockte. Matilda warf einen kurzen Blick zu den anderen hinüber und wurde sich plötzlich bewusst, dass sie die Menschen überhaupt nicht wahrgenommen hatte, obwohl sie schon seit ein paar Tagen mit ihnen reiste. Sie hatte lediglich bemerkt, wie sie die meiste Zeit miteinander sprachen. Ein paarmal hatten sie versucht, Matilda ins Gespräch zu ziehen, aber da ihr kaum eine Antwort zu entlocken gewesen war, hatten sie schnell aufgegeben. Auch während der Kutschenstopps an den Herbergen hatte sie sich von ihnen abgesetzt.
Der Schlenker war dadurch ausgelöst worden, dass sie die Spitze des Berges erreicht hatten. Jetzt fuhren sie an der anderen Seite entlang eines steilen, felsigen Abgrunds wieder hinunter. Zum ersten Mal während der gesamten Reise fühlte
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