Lesley Pearse
letztes Mal in die Augen. »Ich arbeite auf Station A1 im Lodge Hospital. Man kennt mich dort unter dem Namen Schwester Jennings. Können Sie dafür sorgen, dass ich erfahre, wann seine Beerdigung sein wird?«
Die Straßen waren mit Wagen voll gestopft, unzählige Soldaten kreuzten ihren Weg. Die Hitze und der Tumult waren unerträglich. Sie konnte nirgendwohin gehen, außer in das kleine Zimmer, das sie gemietet hatten. Das Bündel legte sie ungeöffnet in einen Schrank und sank auf das Bett. Sie war so betäubt und verzweifelt, dass sie jenseits von Tränen war.
So viele Erinnerungen kamen ihr in den Sinn. Der harte, oft unverschämte Treckführer. Der Freund, der ihr Neugeborenes in seinen Armen wiegte. Sie dachte an ihren ersten Tanz mit ihm in London Lil’s und an das Verlangen, das sie damals in seiner Umarmung spürte. Sein beunruhigtes Gesicht, als er ihr seine Verbindung mit Evelyn gestand. Das wilde Liebesspiel im Regen in der Nähe des Presidios. So viele unvergessliche Küsse, endlose Nächte voller Leidenschaft, gemeinsames Lachen, Glück und Tränen.
Sie hatte geglaubt, alles über ihn zu wissen, seine Vergangenheit, seine Träume und Hoffnungen zu kennen. Sie kannte jeden Zentimeter seines Körpers, erinnerte sich an jede Linie seines Gesichts, die Form seiner Zehen und an die leisen, pfeifenden Geräusche, die er beim Einschlafen von sich gab. Aber jetzt, nachdem er von ihr gegangen war, erkannte sie, dass der größte Teil seines Lebens, das Soldatendasein, ihr völlig unbekannt war. Sie hatte nie herausgefunden, ob er sich vor einer Schlacht fürchtete, ob er betete, trank oder Karten spielte. Wusch und rasierte er sich vor dem Kampf? Hatte er Angst, dass es das letzte Mal sein könnte, wenn er sich auf sein Pferd schwang, um auf das Schlachtfeld zu reiten? Wie fühlte er sich nach dem Sieg oder der Niederlage? Weinte er manchmal?
Sie würde niemals mehr Antworten auf diese Fragen erhalten, aber sie wusste, dass er sogar noch im gefährlichsten Kampf sein Versprechen gehalten und nach Peter gesehen hatte. Sie wollte das Bild, wie er ihren verletzten Jungen auf sein Pferd schwang, für immer in Erinnerung halten. Das war sicher besser, als sich mit dem Gedanken zu quälen, wie ihm die tödlichen Verletzungen beigebracht worden waren.
Und er wollte bei seinen Männern beigesetzt werden. Das war wahrscheinlich die edelste Grabinschrift, die möglich war.
Die Tränen flossen schließlich so heiß, dass sie auf ihrem Gesicht brannten und das Kissen unter ihr nässten. Man nannte sie »die Frau, die niemals weint« – nun, jetzt weinte sie, weil ihr Herz entzweigerissen worden war und sie nichts hatte, wofür sie noch leben wollte. Welchen Grund sollte sie finden, morgens aufzustehen? Welchen Ort konnte sie Heimat nennen, wenn James ihn nicht mit ihr teilen würde?
Sollten sich doch die beiden Armeen gegenseitig bekämpfen, bis alle ausgelöscht waren. Sie hatten ihr den Mann fortgenommen, ihre Liebe, ihre Zukunft. Dieses Leben hatte keinen Sinn mehr.
26. K APITEL
D ie Postkutsche schlingerte von einer Seite auf die andere, während sie über einen Bergweg durch die Sierra Nevada fuhr. Wenn die acht Passagiere nicht so eng aneinander gedrängt gesessen hätten, wären sie hin und her geworfen worden wie Äpfel in einem Korb.
Matilda, in ihrem schwarzen Kleid, Hut und Mantel, saß auf dem Platz direkt neben dem Fenster. Ein Kissen an ihrer Hüfte schützte sie vor den ärgsten Stößen, und die Brise, die durch das offene Fenster ins Innere der Kutsche drang, hielt sie einigermaßen kühl. Und doch war es ihr betäubter Geisteszustand, der sie vor den Unannehmlichkeiten der Reise am meisten schützte.
Es war Juni des Jahres achtzehnhundertfünfundsechzig. General Lee hatte sich im April ergeben, und der Krieg war vorüber. In einem Monat lagen die Schlacht um Gettysburg und James’ Tod bereits zwei Jahre zurück, aber für Matilda hätten es ebenso gut eine Woche, einige Monate oder sogar schon viele Jahre sein können.
Raum und Zeit hatten für sie keine wirkliche Bedeutung mehr. Seit diesem Sommertag, an dem James gestorben war, hatten sich all ihre Bewegungen automatisiert. Sie war ins Krankenhaus zurückgekehrt, um an Tabithas Seite die Verwundeten zu pflegen. Sie hatte rund um die Uhr gearbeitet und den Patienten dieselbe zärtliche Pflege angedeihen lassen wie zuvor, einfach nur, weil sie wusste, dass James es so gewollt hätte. Aber in ihrem Innern fühlte sie sich kalt und
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