Lesley Pearse
glücklichere Wendung genommen hatte.
»Weißt du, was? Du bist richtig nett. Ich dachte immer, alle Engländerinnen wären eingebildet«, gestand Rosa und hakte sich bei ihr ein. »Können wir Freunde sein?«
»Ich hoffe es.« Matilda fühlte einen Schauder der Aufregung über ihren Rücken laufen. Obwohl sie nicht darüber nachgedacht hatte, fühlte sie sich oft einsam, und dieses freundliche, offenherzige Mädchen schien die perfekte Kameradin zu sein. »Hast du öfter am Nachmittag frei?«
Rosa rümpfte die Nase. »Nur sonntags, um meine Familie zu besuchen, und mittwochsabends. Aber davon habe ich nicht viel, weil Mrs. Arkwright mich zu den Bibelstunden schickt. Genauso wie sie mich sonntags in ihre Kirche zwingt.«
»Wo ist denn deine Kirche?«, fragte Matilda neugierig.
Rosa kicherte, und ihre dunklen Augen blitzten verschmitzt. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Matilda lächelte. »Ich glaube schon.«
»Du musst schwören, dass du es nicht weitererzählst, denn Mrs. Arkwright würde mich sofort entlassen, wenn sie es erführe.«
»Versprochen. Mein Mund ist zugeklebt, und ich verspreche, ich falle tot um, wenn ich es ausplaudere«, meinte Matilda.
»Eigentlich bin ich Katholikin. Ich habe gelogen, um den Job zu bekommen, weil die Arkwrights Katholiken hassen. Denkst du, das war sehr böse von mir?«
Matilda, die ohne jede Religion groß geworden war, fand es seltsam, dass die Menschen ein so großes Thema aus den unterschiedlichen Konfessionen machten. »Das denke ich nicht«, antwortete sie. »Ich meine, die Bösen sind die Arkwrights, denn sie verhalten sich unchristlich.«
»Ich glaube eigentlich an gar keinen Gott. Wenn es einen gäbe, warum sollten dann die Menschen so leiden müssen?«, gab Rosa zu bedenken.
»So habe ich früher auch gedacht«, erwiderte Matilda nachdenklich. »Aber Reverend Milson ist der mitfühlendste, freundlichste Mann, den ich je getroffen habe, und er bringt mich dazu, an Gott zu glauben, allein weil er glaubt.«
Rosa kicherte und stieß ihren Ellbogen sanft in Matildas Seite. »Das hört sich an, als liebtest du ihn!«
»Ich liebe ihn für das, was er ist«, sagte Matilda, ohne sich zu schämen. »Ich würde gern einen Mann heiraten, der genauso ist wie er.«
»Ich würde jeden Mann heiraten, der mich versorgen kann«, bekannte Rosa mit plötzlich kummervollen Augen. »Aber die einzigen Männer, die ich kennen lerne, sind die Leute aus der Nachbarschaft meiner Eltern. Von denen heirate ich keinen, denn sie haben mir nichts zu bieten.«
Matilda wusste genau, wovon Rosa sprach, denn sie hatte über die Männer im Finders Court ebenso gedacht. »Irgendwo muss es doch einen Ort geben, an dem wir zwei Schönheiten einen anständigen Mann finden können«, entgegnete sie lachend. »Mrs. Milson hat erzählt, dass die Kirche samstags einen Tanzabend veranstaltet. Denkst du, Mrs. Arkwright würde dir einen Abend freigeben?«
»Wenn sie weiß, dass ich zu einer Kirchenveranstaltung gehe, lässt sie mich bestimmt gehen«, erklärte Rosa.
Am Ende der State Street verabschiedeten sie sich voneinander und versprachen, sich in der nächsten Bibelstunde wiederzusehen. Matilda hüpfte nach Hause und fühlte sich sehr glücklich.
Es war zwei Tage später, als Matilda durch einen Zufall New Yorks dunkelste Seite entdeckte. Ihr freier Nachmittag fiel auf einen warmen, sonnigen Tag, und sie entschloss sich, nach Greenwich Village zu laufen, von dessen Schönheit sie schon viel gehört hatte.
Sie ging über die Pearl Street und betrachtete die Schaufenster. Matilda war so sehr in Gedanken an den gemeinsamen Tanzabend mit Rosa verloren, dass ihr nicht auffiel, wie weit sie gegangen war. Auf einmal bemerkte sie, dass die Gegend immer schäbiger wurde, und versuchte, einen Weg zurück zur Hauptstraße zu entdecken. Plötzlich fand sie sich in einer engen, ungepflasterten Straße wieder, die knöchelhoch voll Abfall lag. Alte, schräg stehende Häuser lehnten sich hier aneinander. Es gab zwar einen hölzernen Bürgersteig, aber er war brüchig und hatte große, gefährliche Löcher. Noch auffälliger als der Schmutz war jedoch die vollständige Veränderung der Atmosphäre. Sogar im hellen Sonnenlicht wirkte die Gegend dunkel und bedrohlich.
Die Neugier trieb Matilda dazu, tiefer in das Viertel einzudringen, anstatt einen Weg zurück zu suchen. Sie wollte über diese Stadt alles erfahren, und das konnte sie nicht, solange sie nicht jeden Aspekt kannte, ob gut oder
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