Lesley Pearse
nickte und streckte die Hand aus. »Wie heißt du?«, fragte sie ihn.
»Sidney«, antwortete er, sah jedoch auf ihre Hand, in der sie das Geld festhielt, anstatt ihr ins Gesicht zu blicken. »Gib mir das Geld!«
Matilda reichte ihm die Münze. »Leben deine Eltern noch, Sidney?« Er schüttelte den Kopf. »Wer kümmert sich denn um dich?«
»Ich selber«, murmelte er und runzelte die Stirn, als könnte er nicht verstehen, warum jemand eine solche Frage stellte.
Matilda steckte die Hand in die Tasche und holte die restlichen Münzen, insgesamt sechs Cent, auch heraus. »Kauf dir etwas zu essen«, sagte sie und drückte ihm das Geld in die schmutzigen Finger. Bevor sie ihn jedoch noch etwas fragen konnte, war er bereits in die dunklen Gassen zurückgeeilt, in denen er sich offenbar sicherer fühlte.
Als Matilda über den Broadway nach Hause ging, zitterte sie. Sie hatte geglaubt, dass ihre Kindheit im Finders Court eine Art Schutz vor Schock war. Was sie jedoch gerade gesehen hatte, ließ die Slums von London und Bristol wie das Paradies erscheinen.
Sie betrachtete erstaunt die wohl genährten, gut gekleideten Menschen, die über den Broadway eilten und ihren Geschäften nachgingen. Die Läden waren angefüllt mit jeglichem vorstellbaren Luxus und Lebensmitteln, mit denen man ganze Armeen hätte ernähren können. Nur fünf Minuten entfernt wohnten jedoch Menschen unter Bedingungen wie niedrigste Tiere und entbehrten der grundsätzlichen Notwendigkeiten wie Kleidung und Essen. War es möglich, dass all diese wohlhabend aussehenden Menschen nichts von all dem ahnten?
Am Abend konnte Matilda nichts essen. Die Gemüseplatte mit gerösteten Kartoffeln und Karotten erschien ihr wie eine stille Anklage, dass ihr so viel geboten wurde, während der Junge Sidney hungern musste. Als Tabitha die Kruste ihres Brotes nicht essen wollte, sah sie das kleine, nackte Mädchen vor sich, das ein Stück hartes Brot im Straßenschmutz gefunden hatte.
»Hast du heute Nachmittag Kuchen gegessen, oder warum hast du keinen Hunger?« Lily blickte sie streng an.
»Nein, ich fühle mich nur nicht gut«, erklärte sie und hoffte, Lily würde sie nicht weiter bedrängen.
Nachdem die Familie gemeinsam gebetet hatte, verabschiedete sich Lily und ließ ihren Mann lesend im Wohnzimmer und Matilda in der Küche zurück, wo sie das Frühstück vorbereitete. Gerade als sie das Brot in den Ofen schieben wollte, kam Giles herein.
»Was bedrückt dich, Matilda?«, wollte er wissen. »Ich habe noch nie erlebt, dass du Essen abgelehnt hast oder so lange still warst. Hast du Heimweh?«
»Nein«, antwortete sie. »Mein Zuhause ist jetzt hier bei Ihnen.«
»Ich freue mich, das zu hören«, erwiderte er lächelnd. »Aber wenn dies dein Zuhause ist, gehörst du zu meiner Familie, und deshalb solltest du mir erzählen, was dich quält.«
Er setzte sich an den Küchentisch, verschränkte die Arme und wartete auf ihre Antwort. In den eineinhalb Jahren, die Matilda für Giles arbeitete, hatte sie gelernt, dass er kein Mann war, den man einfach belügen konnte. Seine dunklen Augen schauten tief in die Seele der Menschen, und Matilda hätte schwören können, dass er manchmal auch ihre Gedanken hören konnte. Doch ihr war ebenso bewusst, dass er diese Fähigkeiten niemals einsetzte, um Leute einzuschüchtern, sondern immer nur, um zu helfen.
»Ich bin nicht krank und habe kein Heimweh«, begann sie. »Ich habe heute nur etwas gesehen, das mich nicht mehr loslässt. Ich bin sicher, wenn Sie es miterlebt hätten, wäre Ihnen der Appetit auch vergangen.«
Sie setzte sich ihm gegenüber, atmete tief ein und platzte mit der ganzen Geschichte heraus, während sie die Augen auf die Tischplatte richtete und nicht aufzublicken wagte. »Mir ist nichts passiert. Ich bin fortgelaufen und habe einen kleinen Jungen gefunden, der mir den Weg gezeigt hat. Es war ein solch schrecklicher Ort, Sir! Ich bin überzeugt, wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie etwas dagegen unternehmen wollen.«
Als er nicht sofort antwortete, fühlte sie sich extrem unwohl. »Es tut mir Leid, Sir«, flüsterte sie. »Bin ich jetzt das, was Madam schnippisch nennt?«
»Keineswegs, Matty«, entgegnete er. »Ich wünschte nur, alle New Yorker würden einmal sehen, was du heute entdeckt hast, und reagieren, wie du reagiert hast. Die meisten, die diesen Ort kennen, meinen, er sei angemessen für die Kreaturen, die dort leben.«
»Sie haben das Viertel also schon einmal gesehen?«, rief sie
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