Lesley Pearse
glaubte nicht, dass sie einen Vater hätte. Oz, dessen vollständiger Name Oswald Pinchbeck war, hatte bislang bei seiner Tante gewohnt, doch sie war fortgegangen. Sein genaues Alter kannte er nicht.
Die Kinder ähnelten einander so sehr – sie alle waren schmutzig, heruntergekommen und unterernährt –, dass Matilda sich nicht vorstellen konnte, sie jemals auseinander halten zu können. Sie wussten so wenig über sich zu erzählen! »Weiß nicht«, lautete die häufigste Antwort. Matilda fand, dass Rat’s Castle ein passender Name für das Gebäude war, denn die Kinder lebten hier wie Ratten. Sie waren gezwungen, nach Essen zu stöbern und dicht aneinander gedrängt zu schlafen. Sie hatten keine Vorstellung davon, wie der Rest der Welt lebte, und Begriffe wie »Familie«, »Fürsorge« und vor allem »Liebe« waren ihnen völlig fremd.
Giles erzählte ihnen von seinem Plan, sie in ein Heim zu bringen. Er redete sie freundlich an und zeichnete ein Bild von Bequemlichkeit, Wärme und einer glücklichen Zukunft für alle Kinder. Obwohl seine Worte eigentlich Begeisterung auf ihre kleinen Gesichter hätten zaubern müssen, bemerkte sie, dass die Kinder immer noch misstrauisch waren.
»Es ist kein Gefängnis«, versicherte Matilda und beugte sich den Kindern entgegen. »Es ist ein richtiges Haus mit Kamin, Betten, Spielzeug und gutem Essen. Es gibt eine Schule dort, ihr bekommt richtige Kleidung und ein Paar Schuhe. Ihr werdet Bücher lesen können, und keiner wird euch jemals wieder verletzen.«
Sie stellten keine Fragen, ein paar ältere Kinder schauten nur zu Sidney hinüber, als erwarteten sie, dass er für sie sprechen würde.
»Sidney«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. »Du hast mich schon mal gesehen, und ich habe dir damals genug vertraut, um mich von dir aus Five Points herausführen zu lassen. Denkst du, dass du auch mir vertrauen kannst?«
Er nickte.
»Das ist gut. Ich weiß, dass du ein schlauer Junge bist, und deshalb möchte ich, dass du dich um die anderen kümmerst. In zwei Tagen kommen wir zur gleichen Zeit wieder und warten draußen. Ich möchte, dass du all diese Kinder mitbringst. Wir führen euch dann zu einem Doktor in der Nähe, wo ihr alle ein richtiges Essen bekommt und ein Bad nehmt. Danach bringen wir euch zu dem neuen Heim, von dem wir euch erzählt haben. Nun, glaubst du, dass du alle zum Kommen bewegen kannst?«
»Weiß nicht«, gab er zweifelnd zurück.
»Wenn die Kleinen erst sehen, wo du sie hinführst, werden sie dich als richtigen Helden betrachten«, versuchte sie, ihn zu überzeugen.
»Ich weiß nicht, ob ich in einem Heim leben will«, brummte er. »Ich habe keine Zeit für Leute, die mich herumkommandieren wollen.«
Der Tonfall des Jungen erinnerte Matilda an ihren Bruder Luke. »Nun gut, du bist schon ein so großer Junge, dass du vielleicht ohne Kleidung und Essen zurechtkommst. Deshalb machen wir jetzt ein Geschäft. Du bringst die Kleinen zu uns heraus und darfst mit ihnen zu Abend essen, aber wenn es dir nicht gefällt, kehrst du wieder nach Five Points zurück.«
Er antwortete nicht, sondern sah sie nur mit unnachgiebigem Blick an.
»Die Kleinen werden im Winter krank werden, wenn sie hier bleiben, Sidney«, mahnte sie und zeigte auf die Kleinkinder in der Gruppe. »Auch wenn du glaubst, dass für dich nicht viel dabei herausspringt, könntest du ihnen die Chance geben, ernährt und versorgt zu werden.«
Sie wusste, dass sie genug vorgebracht hatte, um den Jungen zum Nachdenken zu bewegen. Jeder weitere Überzeugungsversuch würde sein Misstrauen erregen, weshalb sie sich langsam zum Gehen wandte. »Stellt euch nur vor, richtige Betten, große, warme Mahlzeiten und anständige Kleidung«, fügte sie hinzu, während sie Giles über die wackligen Stufen folgte. »Keine Ratten mehr, die nachts über euch klettern.«
Eine Stunde später hatten Matilda und Giles sich gewaschen und ihre Kleidung gewechselt. Sie saßen mit dem Doktor in dessen Behandlungszimmer, tranken eine Tasse Tee und diskutierten, was sie heute gesehen hatten.
Dr. Tad Kupicha kam aus Polen und war vor dreißig Jahren mit seiner jungen Frau nach Amerika gekommen. Nachdem er Anna und seine drei Töchter vor langer Zeit bei einer Cholera-Epidemie verloren hatte, war er zu einer Art Kreuzritter für die Armen geworden.
Darius Kirkbright hatte Giles mit dem Doktor bekannt gemacht, und durch ihr gemeinsames Anliegen waren sie bald enge Freunde geworden. Kupicha war einer der wenigen Ärzte,
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