Lesley Pearse
abgetragenen Kleid und dem verschlissenen Umhang selbst wie ein Straßenkind aus. Ihr Haar hatte sie heute unter einem alten Tuch versteckt, das sie zu einer Haube geknotet hatte. In Dr. Kupichas Haus in der Nähe von Five Points hatten sie sich für ihr Vorhaben umgekleidet. Wenn sie ihre kleine Exkursion beendet haben würden, würden sie dorthin zurückkehren, sich waschen und die Lumpen gegen ihre normale Kleidung austauschen. Der Doktor hatte sie zwar gewarnt, dass sie sich auf diese Weise nicht vollständig davor schützen könnten, Infektionen mit nach Hause zu bringen, aber es war die einzige Vorsorge, die sie treffen konnten.
»Nun gut, dann werden wir hingehen und uns den Ort erst einmal ansehen«, gab Giles nach. »Es könnte sein, dass es uns heute sowieso nicht gelingt, ihn zu betreten. Zumindest nicht, wenn ein paar kräftige Jungs Wache schieben.«
Rat’s Castle befand sich am Ende einer schmalen Straße. Matilda und Giles blieben eingeschüchtert stehen, als sie näher an das Gebäude getreten waren. Es war ein trostloser Anblick. Anstelle der Eingangstür sahen sie nur ein gähnendes, schwarzes Loch, als hätte jemand die Haustür samt Holzrahmen herausgerissen, um es als Feuerholz zu benutzen. Als sie näher traten, sah Matilda, dass mit der Treppe im hinteren Teil der abfallbedeckten Eingangshalle offenbar dasselbe passiert war. Das Geländer fehlte vollständig, und was von den Stufen übrig geblieben war, schwankte gewissermaßen im Winde. Der Gestank verschlug ihr den Atem, und sie musste zurücktreten, um durchatmen zu können.
»Wenigstens wird es nicht bewacht«, murmelte Giles. »Aber ich weiß nicht genau, wie wir dort hineinkommen sollen, Matty. Vor ein paar Wochen habe ich einmal versucht, die Treppen hochzusteigen, doch die Stufen haben unter mir nachgegeben.«
»Der Mann im Geschäft hat gesagt, er hätte einen Jungen hineinklettern sehen«, erinnerte sie ihn. »Das bedeutet vielleicht, dass er von außen hereingekommen ist.«
»Dann lass uns um das Gebäude herumgehen«, antwortete Giles und suchte einen Weg durch ein Dickicht aus Unkraut und wucherndem Gestrüpp. Als sie sich einen Weg um einen besonders großen Busch herum suchten, fanden sie sich auf einer Art kleinen Lichtung wieder, auf der das Unkraut niedergetrampelt worden war. Vor ihnen lag ein schmaler, aber eindeutig oft begangener Pfad, dessen Anfang wahrscheinlich irgendwo hinter dem Haus lag.
»Schauen Sie«, meinte Matilda und deutete auf ein Loch, das an der Wand des Hauses in den Boden gegraben worden war. »Ich wette, das ist der Eingang.«
Behutsam zog sie ein paar Zweige fort, die über dem Loch lagen. Sie ließen sich leicht entfernen, und es kam ein Bruch in der Hauswand zum Vorschein, der den Kindern offenbar als Eingang diente.
Matilda schaute ihren Dienstherrn betroffen an, aber er lächelte ihr nur beruhigend zu und holte aus seinem Beutel eine Laterne, die er mitgebracht hatte.
»Ich lasse sie herunter und schaue mir das Ganze an«, raunte er ihr zu. Matilda sah zu, wie er die Kerze anzündete und sich vor dem Loch auf die Knie sinken ließ. »Auf gehts«, flüsterte er, ließ die Laterne hinab und lehnte sich in die Maueröffnung.
Sofort zog er den Kopf jedoch wieder zurück. »Sie sind dort«, rief er mit einem Ausdruck des Erschreckens im Gesicht. »Unten im Keller. Dutzende von ihnen.«
»Lassen Sie mich sehen«, bat Matilda. Sie streckte die Laterne weit in den Kellerraum hinein, wo es langsam hell wurde. Der Anblick, der sich ihr nun eröffnete, erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe das Licht hätte fallen lassen. Ihr Herz zog sich vor lauter Mitleid zusammen. Dutzende Augenpaare starrten auf den hellen Punkt, der durch das Loch in der Wand drang. Die kleinen, weißen Gesichter der Kinder waren im Lichtstrahl gefangen. Der Geruch, der aus dem Kellerloch nach draußen strömte, war abstoßend, aber sie konnte nun keinen Rückzieher mehr machen.
»Ich habe euch etwas zu essen mitgebracht«, rief sie. »Darf ich hereinkommen?«
Matilda wartete nicht auf eine Antwort oder einen Rat ihres Dienstherrn, sondern kletterte in den Keller, wobei sie die Laterne fest umschlossen hielt. Unter dem Loch stand eine Kiste, und dahinter führten schräge kleine Stufen, die aus Steinen gebaut waren, zu den Kindern hinunter, die etwa fünf Meter tiefer saßen. Als ihre Füße den Boden berührten, bemerkte sie, dass er unter Wasser stand.
Indem sie die Laterne vor sich hielt, ging sie auf die Kinder zu.
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