Lesley Pearse
die eine offene Klinik in New York betrieben. Er setzte sich unermüdlich gegen die Vermieter der Slumwohnungen ein und kämpfte für mehr sanitäre Einrichtungen in der Stadt.
»Denkst du, dass Sidney die anderen Kinder ermuntern kann, uns zu folgen?«, fragte Giles den Doktor.
Kupicha zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Giles. Sie lernen bereits in jungen Jahren, nie einem Erwachsenen zu glauben. Aber ich bin zuversichtlich. Es war ein großes Glück, dass Matty den Jungen bereits vorher getroffen hatte. Ich denke, die Tatsache, dass sie ohne Angst zu den Kindern hinuntergeklettert ist, hat ihn beeindruckt und sein Vertrauen geweckt.«
»Können wir sie denn versorgen, wenn alle mitkommen?«, hakte Matilda eifrig nach. Der Kellerraum, in dem sie sich umgezogen hatte, war bereits für die Ankunft der Kinder vorbereitet worden. Es standen zwei große Zinkwannen darin, zahllose Tiegel mit Salben und Medikamenten und ein großer Berg Kinderkleidung, der von den Gemeindemitgliedern gesammelt worden war und für sie alle ausreichen würde. Aber achtzehn Kinder, allesamt verlaust und einige sicher auch krank, war eine beträchtliche Anzahl, wenn man sie alle gleichzeitig versorgen wollte.
»Natürlich können wir das«, versicherte Kupicha lächelnd. »Und wenn wir sie sauber, satt und mit hoffnungsvollen Gesichtern sehen werden, wissen wir auch, dass sich der Kampf gelohnt hat.«
Erst später am Abend wurde Matilda bewusst, dass sich ihr Verhältnis zu Giles unwiederbringlich verändert hatte, seit sie gemeinsam an diesem Projekt für die armen Kinder arbeiteten. Obwohl sie selbst es nicht als besonders heroisch empfand, zu ihnen in den Keller geklettert zu sein, bewunderte Giles sie für diese Tat. Auf der Fahrt zurück nach Hause hatte er kleinlaut zu erklären versucht, dass er sich sicher nicht hinabgewagt und eine Ausrede gefunden hätte, wenn sie nicht vorangegangen wäre. Auch hätte er seinen Plan den Kindern niemals so prägnant wie Matilda erklären können, meinte er.
Obwohl sie ihm dies nicht glaubte, war ihr doch klar, dass die Kinder vor ihm wahrscheinlich zurückgeschreckt wären, wenn er allein gekommen wäre, und sie strahlte vor Freude, ihm eine so große Unterstützung gewesen zu sein. Als sie schließlich zu Hause ankamen, wartete eine weitere Überraschung auf sie. Lily hatte das Abendessen bereits vorbereitet, den Tisch gedeckt und bediente Matilda regelrecht. Sie fragte begierig, wie sich die Kinder verhalten hätten und wie alt sie waren.
»Es sind kleine Lausbuben zwischen drei und sieben Jahren«, erwiderte Matilda. »Der Älteste heißt Sidney und hat rotes Haar. In zwei Tagen müssen wir die Kinder abholen, um sie nach New Jersey zu begleiten.« Sie hoffte, dass Auslassungen der Wahrheit nicht so schlimm wie Lügen waren.
Zwei Tage später standen Giles und Matilda um drei Uhr nachmittags wieder vor Rat’s Castle. Der Regen hatte am Vortag aufgehört, aber es wehte ein kalter, herbstlicher Wind, und die Kinder waren nirgendwo zu sehen.
»Sie haben sich entschlossen, nicht zu kommen«, stellte Giles düster fest, während sie ängstlich auf und ab schritten.
»Nicht unbedingt«, antwortete Matilda. »Ich glaube nicht, dass auch nur einer von ihnen weiß, wie spät es ist. Wir müssen uns eben ein wenig gedulden.«
In diesem Moment kam Sidney um die Ecke gelaufen, allein. »Sehen Sie«, sagte Matilda triumphierend zu ihrem Dienstherrn. »Ich vermute, er ist allein gekommen, um ein neues Geschäft für sich auszuhandeln. Wahrscheinlich möchte er Geld haben.«
Sie winkte Sidney und ging auf ihn zu. Als sie näher kam, erkannte sie an der Haltung des Jungen, dass er sehr unsicher war. Er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Hallo, Sidney«, begann sie und fragte sich, wie sie reagieren sollte, wenn er nach Geld fragen sollte. »Wo sind die anderen?«
»Sie sind dort drüben.« Er wies vage in die Richtung einer kleinen Straße. »Die Erwachsenen haben uns gestern aus dem Keller geworfen.«
»Diesen Ort braucht ihr jetzt nicht mehr«, entgegnete sie mit einem Lächeln. »Heute werdet ihr in einem richtigen Bett schlafen.«
Sein Blick verdüsterte sich. »Was springt für dich dabei heraus?«
Sein Zynismus erinnerte sie wieder an Luke. Auch er hatte nie verstanden, dass Menschen etwas taten, ohne einen Vorteil für sich selbst dabei im Auge zu haben.
»Ich darf euch glücklich und umsorgt sehen«, meinte sie und versuchte, nicht wütend zu werden.
»Warum ist dir
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