Letale Dosis
so etwas? Und warum?«
»Wenn wir das Warum kennen würden, wäre es vielleicht nur noch ein kleiner Schritt zum Täter.«
»Und was wollen Sie heute hier machen? Leute befragen?«
»Uns umsehen, weiter nichts. Aber sagen Sie, wie ist denn die momentane Stimmung hier?«
»Die Leute sind natürlich sehr betroffen, wie Sie sich bestimmt vorstellen können. Ich habe in den vergangenen Tagen eine ganze Menge Anrufe erhalten, von Mitgliedern, die einfach fassungslos sind. Und natürlich sind solche Mordfälle der ideale Nährboden für allerhand Gerüchte …«
»Was für Gerüchte?«
Sabine Reich zuckte die Schultern, ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Na ja, unsere Kirche wird von vielen Außenstehenden nicht sehr ernst genommen. Wir sind immer noch alsSekte verschrien, obwohl wir keine Splittergruppe einer der großen Kirchen sind, sondern eine eigenständige Kirche mit ganz klaren Zielen und Dogmen. Die einen vermuten, es könnten welche von den Zeugen Jehovas oder einer anderen konkurrierenden Kirche sein, wobei als Hauptgrund immer wieder angeführt wird, daß wir in den letzten dreißig Jahren zu den am schnellsten wachsenden Glaubensgemeinschaften weltweit zählen. Während andere Kirchen, wie die Mormonen etwa, immer mehr Mitglieder verlieren, steigen unsere Mitgliederzahlen rapide an. Aber meiner Meinung nach kommt eine andere Kirche nicht in Frage. Wenn man sich in einem – christlichen – Glaubenskrieg befindet, dann tötet man nicht mit Gift, sondern trägt den Krieg offen und vor allem verbal aus. Es gab auch in den vergangenen Monaten und Jahren keinerlei Hinweise darauf, daß eine andere Glaubensgemeinschaft sich uns gegenüber feindlich verhalten hätte. Deshalb halte ich diese Theorie für an den Haaren herbeigezogen. Der Tod dieser Männer hat einen anderen Hintergrund. Doch welchen?« Sie zuckte ratlos die Schultern und fuhr fort: »Das müssen Sie schon herausfinden.«
»Und gibt es noch andere Theorien?« fragte Durant.
»Sicher, aber ich kann mich nicht an alle erinnern. Wenn es wichtig wäre, wüßte ich es noch und würde es Ihnen auch sagen. Die Leute sind eben aufgeschreckt und stellen, wie sollte es auch anders sein, die wildesten Spekulationen an. Aber ich gebe nichts auf Spekulationen.« Sie schaute zur Uhr. »Wir sollten jetzt aber reingehen, denn man sieht es nicht gerne, wenn die Mitglieder nicht pünktlich auf ihrem Platz sitzen. Möchten Sie lieber vorn oder lieber hinten sitzen?«
»Lieber hinten. Übrigens, meinen Kollegen Hellmer kennen Sie ja schon, die Dame an seiner Seite ist seine Frau Nadine.«
»Hallo«, sagte Sabine Reich und schüttelte Nadines Hand, »nett, Sie kennenzulernen. Aber wir sollten uns jetzt wirklich beeilen, wenn wir noch einen einigermaßen guten Platz erwischen wollen.Ich setze mich zu Ihnen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Wenn Sie Fragen haben …«
Pünktlich um neun wurde es auf einmal mucksmäuschenstill in dem großen Saal. Ein etwa vierzigjähriger Mann, der auf dem Podium neben drei anderen Männern saß, erhob sich und trat an das Pult. Er brachte das Mikrofon in die richtige Position, räusperte sich, sagte: »Guten Morgen, liebe Brüder und liebe Schwestern. Ich begrüße Sie zu unserer Versammlung, die wir mit dem Singen des Liedes Nummer dreiundsechzig beginnen, danach wird Schwester Groß das Anfangsgebet sprechen.«
Der Dirigent stand neben dem Organisten, die Gesangbücher wurden aufgeschlagen, die Gemeinde begann zu singen. Danach trat eine alte Frau von mindestens fünfundsiebzig Jahren in gebeugter Haltung nach vorn, sprach das Gebet.
Nach dem Amen stand Karl-Heinz Fink auf, trat mit ernster Miene ans Mikrofon. Es schien, als habe er die Beamten noch nicht bemerkt. Er sagte mit bedächtiger Stimme: »Liebe Brüder und liebe Schwestern, ich möchte heute kurz zu Ihnen sprechen über das, was in der letzten Woche vorgefallen ist. Wie Sie inzwischen alle wissen, wurden zwei unserer großartigen Brüder auf äußerst tragische Weise aus unserer Mitte gerissen, wurden ihre Frauen zu Witwen gemacht und ein Unrecht begangen, wie es diese Kirche seit ihrem Bestehen kaum je erlebt hat. Zwar gab es in der Anfangszeit heftige und zum Teil grausame Verfolgungen durch Andersgläubige, doch diese Zeiten sind längst vorbei – dachten wir zumindest noch bis vor einer Woche. Bruder Rosenzweig und Bruder Schönau wurden grausam und heimtückisch ermordet, und die Polizei hat noch keinerlei Anhaltspunkte, wer der Täter sein
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