Letale Dosis
gut. Ich komme am Mittwoch wieder, wenn es die Zeit erlaubt. Ich hab dich lieb.«
Sie verließ das Zimmer, lief über den Gang, verabschiedete sich vom Pflegepersonal; der Kasache begleitete sie zur Tür, nahm den dicken Schlüsselbund, der an einer Kette am Gürtel befestigt war, schloß auf. Diesmal nahm sie nicht den Aufzug, sondern die Treppe, stieg in ihr Auto und machte sich auf den Heimweg. Sie dachte nach, sie weinte schon lange nicht mehr. In ihr waren nur noch unendliche Wut und lodernder Haß.
Sonntag, 16.30 Uhr
Julia Durant hatte nach dem Mittagessen bei Hellmers – es gab Rouladen, Kartoffeln und Rotkohl – Berger von Jürgen Finks Selbstmord unterrichtet. Nach dem Telefonat hatten sie noch eine Weile zusammengesessen, Kaffee getrunken, sich unterhalten. Seit dem Mittag regnete es unaufhörlich, pfiff ein kühler, böiger Wind über den Taunus ins Tal. Um vier wählte sie die Nummer von Fink, der nach dem zweiten Klingeln abnahm.
»Hier Hauptkommissarin Durant«, meldete sie sich.
»Oh, wie nett, daß Sie sich melden! Da muß ich also von meiner Tochter anstatt von Ihnen erfahren, daß mein Sohn sich das Leben genommen hat! Und muß außerdem noch hören, daß Sie heute morgen in der Gemeinde waren. Was hatten Sie dort zu suchen? Und was wollen Sie jetzt von mir?«
»Dr. Fink, ist es nicht egal, von wem Sie erfahren, daß Ihr Sohntot ist? Und zu Ihren Fragen – es geht Sie nichts an, ob ich Ihre heiligen Hallen betrete oder nicht. Soweit ich weiß, ist Ihre Kirche eine öffentliche Einrichtung, oder irre ich mich da? Und was ich von Ihnen will – ein Gespräch. Ihre Tochter hat Ihnen doch sicherlich von dem Abschiedsbrief Ihres Sohnes erzählt, oder nicht?«
»Sie hat erwähnt, es gäbe einen, den Sie aber behalten hätten. Darf ich fragen, warum?«
»Natürlich dürfen Sie das, in etwa einer halben Stunde, wenn mein Kollege und ich bei Ihnen sind. Wir stören doch hoffentlich nicht Ihren Sabbattag, wenn wir um halb fünf bei Ihnen vorbeischauen?«
»Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Und bringen Sie bitte den Brief mit, ich möchte selbst sehen, was mein Sohn im Suff geschrieben hat.«
»Bis gleich, Dr. Fink«, sagte Durant und legte auf. Sie ballte die Fäuste, sagte: »Dieser verdammte, arrogante Dreckskerl! Sein Sohn ist tot und er hat nichts als blanken Zynismus für ihn übrig. Mein Gott, es gibt nur selten Menschen, denen ich eins in die Fresse hauen möchte, aber Fink gehört ganz sicher dazu.«
»Ach, komm«, sagte Nadine Hellmer und legte einen Arm um sie. »Es hat keinen Sinn, sich über solche Typen aufzuregen. Es ist sein Leben, nicht deines.«
»Aber er ruiniert das Leben anderer, zumindest hat er das bei seinem Sohn geschafft. Dieser Kerl ist ein Kotzbrocken mit einem Heiligenschein. Du hast ihn doch heute morgen selbst reden hören, Nächstenliebe, helfen! Blablabla, kann ich da nur sagen! Dieses gottverdammte Arschloch kann doch das Wort Nächstenliebe nicht einmal buchstabieren, geschweige denn etwas damit anfangen. Dieser Typ denkt nur an sich. Alles andere ist ihm scheißegal. Aber ich schwöre dir, wenn ich die Gelegenheit dazu kriege, mache ich ihn fertig. Ich hab keine Ahnung, was für Typen Rosenzweig und Schönau waren, aber die können nicht halbso schlimm gewesen sein wie Fink. Er ist für mich das Abbild eines Pharisäers, in der Öffentlichkeit den Heiligen markieren, in seinem Innern aber zerfressen von Haß und Vorurteilen.« Sie zuckte die Schultern, schüttelte den Kopf.
»Und was, wenn du dich irrst?« fragte Nadine Hellmer. »Was, wenn das alles nur Fassade ist?«
»Ich wünschte, du hättest recht. Doch ich glaube es nicht; nicht, nachdem ich zweimal persönlich mit ihm gesprochen und seine Reaktionen getestet habe. Er ist genau so, wie ich ihn beschreibe. Wir müssen jetzt los. Danke noch mal für das Essen und die Gesellschaft. Es war ein schöner Nachmittag.«
»Wir können das gern öfter wiederholen«, sagte Nadine lächelnd. »Du bist jederzeit herzlich willkommen.«
Sonntag, 16.30 Uhr
Als Julia Durant und Hellmer bei Fink ankamen, war der Regen noch stärker geworden. Sie stiegen aus, rannten auf das Haus zu, klingelten. Kurz darauf ertönte der Türsummer, Fink stand in der Tür, die Hände in den Hosentaschen.
»Kommen Sie rein«, sagte er mit kalter Stimme, »meine Frau ist im Wohnzimmer und heult sich die Seele aus dem Leib. Vielleicht ist es besser, wenn wir uns in meinem Arbeitszimmer unterhalten.« Er wollte schon vorangehen,
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