Letale Dosis
Kennen Sie diese Frau?« sagte Durant und hielt ihr das Foto hin. Die Schwester betrachtete das Bild eine Weile, schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, hab ich noch nie gesehen. Zumindest hier nicht. Aber Sie können gern meine Kollegen fragen.«
»Das hatte ich ohnehin vor.«
An diesem Vormittag hatten vier Pflegekräfte auf der Station Dienst, diese Schwester und drei Pfleger, einer davon ein bulliger Mann mit kurzgeschorenem Haar und leicht sächsischem Dialekt. Der Bullige sagte nach einigem Überlegen: »Ich glaube, ich habe die Frau schon mal gesehen. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Es könnte oben auf der Zwölf gewesen sein … Aber mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen. Obwohl … Nein, ich will nichts Falsches sagen, auch wenn sie mir irgendwie bekannt vorkommt. Fragen Sie doch mal oben nach, ein Stock drüber. Vor einem halben Jahr oder so sind drei Pfleger auf einmal ausgefallen, und da mußte ich auf die Zwölf. Darf ich fragen, wer die Frau ist?«
»Nein, das dürfen Sie nicht. Trotzdem vielen Dank.«
Auf Station 12 das gleiche. Sie klingelte, diesmal öffnete ein Pfleger, ein kleiner, mißmutig dreinblickender Typ, der die Kommissarin mit stechendem Blick aus fast schwarzen Augen musterte. Drei alte Frauen standen wie angewurzelt auf dem Gang, starrten die Kommissarin wie ein Wesen aus einer andern Welt an. Sie wies sich aus, zeigte dem jungen Mann, auf dessen Namensschild Mirko stand, das Bild. Er schaute es kurz an, dann die Kommissarin.
Er schien einen Moment unschlüssig, schließlich sagte er mit unverkennbar slawischem Akzent: »Doch, ich kenne diese Frau. Sie kommt mindestens einmal in der Woche her.«
Julia Durant war wie elektrisiert. »Wirklich? Wie heißt sie?«
»Wie sie heißt?« Er zuckte die Schultern. »Ich müßte in den Unterlagen nachsehen. Aber ich kann Ihnen sagen, wen sie besucht. Zimmer 214, Frau Ehrentraut …«
»Kann ich mit der Frau sprechen?«
Mirko lächelte verkniffen, sagte: »Sie können es versuchen, aber ich glaube kaum, daß sie Sie verstehen wird. Sagen wir es so, sie sitzt den ganzen Tag nur da und … ihr Geist ist tot.«
»Was fehlt ihr?«
»Korsakow-Syndrom, ein Schlaganfall, Leberzirrhose, eigentlich alles, was nötig ist, um langsam zu sterben. Sie ist ein hundertprozentiger Pflegefall.«
»Korsakow-Syndrom?« fragte die Kommissarin. »Könnten Sie mir das näher erklären?«
»Am besten fragen Sie Dr. Schermer, er ist im Arztzimmer. Er kann Ihnen genau sagen, was mit Frau Ehrentraut ist. Augenblick, ich begleite sie.«
Mirko klopfte an die Tür, ein kaum hörbares »Herein«.
»Dr. Schermer, das ist Kommissarin Durant von der Kriminalpolizei. Sie würde gern mit Ihnen reden.«
Schermer stand auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, reichte der Kommissarin die Hand. Er war kleiner als sie, sehr schlank, sein Alter schätzte sie auf Ende Dreißig bis Anfang Vierzig, was auch täuschen konnte, denn seine fast vollständige Glatze und der etwas strenge Blick ließen ihn älter wirken. Er bot ihr einen Stuhl an, setzte sich ihr gegenüber.
»Was kann ich für Sie tun? Geht es um Professor Petrol?«
»Auch. Aber zuerst, kennen Sie diese Frau?«
Schermer nahm das Foto in die Hand, nickte. »Ja, warum?«
Julia Durant ließ die Frage unbeantwortet, sagte: »Diese Frau besucht regelmäßig eine Patientin dieser Station, Frau Ehrentraut. Können Sie mir etwas zu ihr sagen? Wie lange sie hier ist, warum sie ein Pflegefall ist, und so weiter?«
Dr. Schermer lehnte sich zurück, die Hände aneinandergelegt, die Fingerspitzen berührten seine Nase. »Frau Ehrentraut ist das, was man einen klassischen Suchtpatienten nennt. Zwar ist die Station 10 die eigentliche Alkoholikerstation, doch ab und zu bekommen wir auch welche hierher, wenn unten kein Platz mehr ist. Wenn Sie einen Moment warten wollen; ich zieh mir schnell die Akte, damit ich nichts Falsches sage.« Er erhob sich, holte einen prallgefüllten Hängeordner aus dem Schrank, legte ihn auf den Tisch, schlug ihn auf. Nach einer Weile sagte er: »Sie kam zu uns am 3.6.95. Sie war erst auf der Zehn zur Entgiftung, wo sich aber schnell herausstellte, daß mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war auch nach mehreren Tagen nicht ansprechbar, murmelte unverständliches Zeug, weshalb wir ausführliche physiologische, aber auch neurologische Untersuchungen bei ihr durchgeführt haben. Dabei haben wir nicht nur eine fortgeschrittene Leberzirrhose festgestellt, sondern auch das sogenannte
Weitere Kostenlose Bücher