Letale Dosis
Jahren unter Angstzuständen und Panikattacken leidet, dies aber nie publik machen würde, aus Angst – was für ein Hohn –, die andern in der Kirche könnten sie dafür auslachen. Mich wundert sowieso, daß sie mit Ihnen darüber gesprochen hat. Der einzige Grund, den ich für diese Offenheit sehe, ist, daß Sie nicht zur Kirche gehören, also ist es auch egal, ob sie es Ihnen sagt oder nicht.«
»Aber Dr. Rosenzweig kannte das Problem seiner Frau?«
»Ich vermute fast, sie ist auf sein Drängen hin zu mir gekommen. Freiwillig hätte sie es wohl nie getan. Aber wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Vielleicht hatte er aber auch gar keine Ahnung.«
Sie hatten den Salat aufgegessen, der Kellner brachte die Spaghetti und nahm die leeren Teller mit.
»Frau Reich, nennen Sie mir einen triftigen Grund, weshalb Frau Rosenzweig ihren Mann nicht getötet haben kann.«
»Frau Durant, Sie wissen so gut wie ich, daß jeder Mensch in Ausnahmesituationen zu einem Mord fähig ist. In jedem von uns schlummert ein Mörder. In dem einen mehr, im andern weniger. Aber die einen leben ihre Aggressionen oder ihren Frust aus, die andern fressen alles Leid, das ihnen zugefügt wird, in sich hinein. Frau Rosenzweig hat es sicher nicht immer leicht gehabt in ihrem Leben, ihre Kindheit war geprägt von einem überaus dominanten Vater und einer Mutter, die sich ihrem Mann bedingungslos unterwarf. Dazu kam der Druck der Kirche, dem sie sich zukeiner Zeit widersetzen konnte. Außerdem hat sie einen Mann aus der Kirche geheiratet, der in etwa die gleiche Dominanz an den Tag legte wie ihr Vater. Sie hat früh gelernt, was es in der Kirche bedeutet, eine Frau zu sein. Erst seit vielleicht zwanzig Jahren beginnen die Verkrustungen aufzubrechen, und die jungen Leute, zu denen ich mich trotz meiner vierunddreißig Jahre auch noch zähle, fangen an, nicht mehr nur die Kirche als das allein Seligmachende zu sehen. Sie hinterfragen gewisse Dinge, werden offener, was nicht zuletzt auch auf die Medien zurückzuführen ist. Ich glaube, vor dreißig oder vierzig Jahren hätte ich mich dieser Kirche nicht angeschlossen, weil ich von jeher ein etwas rebellischer Mensch bin und dort kein Forum gefunden hätte. Aber mittlerweile gibt es viele Gleichgesinnte, und es macht mir Spaß, den Alten hin und wieder Kontra zu geben.«
»Und was können Sie mir noch über Frau Rosenzweig sagen?«
Sabine Reich schien einen Moment zu überlegen, bevor sie mit einem zarten Lächeln, das sie noch hübscher machte, antwortete: »Sie ist die gutmütigste Frau, der ich je begegnet bin. Egal, wann man sie braucht, sie wird ihre Hilfe niemals verweigern. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die sich vor etwa zweieinhalb Jahren abgespielt hat. Ein abgerissener, zerlumpter Bettler stand plötzlich vor ihrer Tür. Fast jeder andere Mensch hätte die Tür gar nicht erst aufgemacht oder sie gleich wieder zugeschlagen. Dieser Mann, dreckig und stinkend, stand also da und bat um eine Kleinigkeit zu essen und etwas zu trinken. Frau Rosenzweig hat ihm aber nicht nur diesen Wunsch erfüllt, sie hat ihn sogar ins Haus gebeten, damit er sich an den Tisch setzen konnte, auf einen dieser sündhaft teuren Chippendale-Stühle. Sie hat ihm eine richtige Mahlzeit aufgetischt, damit er satt wurde. Als er fertig gegessen hatte und schon gehen wollte, hat sie ihn gefragt, wo er denn schlafen wolle. Er sagte, er wisse es nicht, aber er würde schon irgendwo einen Platz finden. Und wissen Sie, was Frau Rosenzweig daraufhin gemacht hat? Sie hat ihmangeboten, die Nacht in einem der Gästezimmer zu verbringen. Sie hat ihm Badewasser eingelassen, seine schäbige Kleidung in die Mülltonne geworfen, bei einem Bekannten angerufen, der ein Bekleidungsgeschäft hat und neue Kleidung für ihn bestellt. Der Mann hat nicht nur diese eine Nacht bei den Rosenzweigs verbracht, sondern er hat fast einen Monat bei ihnen gewohnt. Wie sich herausstellte, war er durch höchst unglückliche Umstände zum Bettler geworden, denn eigentlich hatte er eine hervorragende Ausbildung genossen, hatte sogar als Rechtsanwalt gearbeitet, doch eines Tages war ihm ein fataler Fehler unterlaufen, der seine Karriere ruinierte. Und nicht nur das, auch seine Frau, gewohnt, in relativem Wohlstand zu leben, verließ ihn mit den beiden Kindern, verbreitete Lügen über ihn, die jeder glaubte, verkaufte das Haus und alles was dazugehörte und ließ sich mit den Kindern in einer andern Stadt nieder. Und so ging es rapide bergab
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