Letzte Ausfahrt Neckartal
Vertreter und Verkäufer, dann die Politiker und was weiß ich alles gekommen. Aber was mit den Menschen geschah, hat überhaupt niemanden mehr interessiert. Für viele hat damit ein Leben in Angst und Überforderung angefangen. Vater und Onkel Horst wussten nicht mehr, wie es weitergehen sollte.«
Melchior hörte sich an, als ob sie hätte tatenlos zuschauen müssen, wie damals in wenigen Monaten eine heile Welt zusammenbrach. »Möglicherweise haben Sie recht, und einiges ist tatsächlich zu schnell gegangen. Man hätte sich vielleicht die Zeit für eine Alternative nehmen sollen.«
»Dazu hat es keine Gelegenheit gegeben. Was hat Willy Brandt schon einen Tag nach dem Mauerfall gesagt? Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Das klang wie: Die Wende war längst überfällig. Doch das war sie, verdammt noch mal, überhaupt nicht. Nicht für mich, nicht für meinen Vater und auch nicht für Onkel Horst.« Melchior schüttelte den Kopf.
»Freiheit als Zumutung? Sie hätten wohl gerne wieder Ihre gute alte DDR zurück?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie winkte ab. »Aber etwas langsamer und dabei mehr nachdenken wäre schon angebracht gewesen. Aber dieses Geschwafel von blühenden Landschaften und alles wird jetzt besser, das hatte ja allen längst den Kopf zugemüllt.«
»Niemand kann die Wende mehr rückgängig machen. Und irgendwann wird sich zeigen, dass es der richtige Weg war.«
»Irgendwann? Vielleicht. Aber damals habe ich davon nicht das Geringste bemerkt. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Die Dienststelle meines Vaters wurde einfach aufgelöst und er nach Hause geschickt. Onkel Horst musste acht Jahre um seine Rente kämpfen. Und die, die bei uns im Konsum um die Ecke gearbeitet haben, verloren gleich 1990 ihren Job. Das war die Wirklichkeit.«
Treidler versuchte sich vorzustellen, wie Melchior die Wende und die Jahre danach erlebt hatte. Doch vor seinem geistigen Auge tauchten nur die Bilder der jubelnden Menge an den Berliner Grenzübergängen aus dem November 1989 auf. Alles danach war nur noch Nostalgie. »Und Ihr Vater? Wie ist es ihm ergangen?«
Der zornige Ausdruck verschwand auf Melchiors Gesicht. Erschöpft senkte sie die Schultern. »Die Nachbarn wussten, dass er für das MfS gearbeitet hatte. Er wurde schnell angefeindet. Zuerst nur versteckt, es hat sich einfach niemand mehr mit ihm abgegeben. Aber dann auch öffentlich. Das hatte schon fast die Dimensionen einer Hetzjagd. Manche wurden sogar handgreiflich. Irgendwann hat er das alles nicht mehr ertragen und sich mit seiner Dienstwaffe erschossen.« Sie schluckte. »Egal, was er sich während seiner Zeit beim MfS hat zuschulden kommen lassen, ohne die Wende würde er heute vielleicht noch leben.«
Treidler räusperte sich. »Das tut mir leid für Sie.« Das also war der Grund für ihre Verbitterung, ihren Zorn. Sie gab der Wende die Schuld am Tod ihres Vaters.
»Muss es nicht. Das gehört zu einem lange zurückliegenden Teil meines Lebens.« Melchior rang sich zu einem Lächeln durch. »Sogar ich bin mittlerweile im Westen angekommen.«
Im Kühlschrank gab es kein Bier mehr, sondern nur noch zwei Flaschen Weißwein. Treidler nahm sich eine davon, öffnete sie und schlurfte zum Fernsehgerät. Dort ließ er sich in den Sessel fallen, trank ein paar Schlucke und starrte auf die schwarze Mattscheibe. Erst nachdem die Flasche halb leer war, entdeckte er zwischen den Gläsern und Flaschen vom Vorabend die Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch. Er schaltete den Fernseher ein, schaffte sich Platz auf dem Tisch und legte die Beine hoch. Ohne wirklich etwas von den Sendungen mitzubekommen, zappte er durch das Vorabendprogramm und blieb schließlich an einer zweitklassigen Talkshow im Sportkanal hängen. Es dauerte gerade bis zur nächsten Frage des dauergrinsenden Moderators, und Treidler schlief noch vor der Antwort ein.
Im Traum stand Lisa neben ihm. In der Dunkelheit erstrahlte ihr Gesicht hell wie ein Licht auf dem Wasser. Ihre bloße Anwesenheit erfüllte ihn mit einem berauschenden Glücksgefühl. Treidler wusste, dass er träumte, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Hier und jetzt wirkte alles real. Er sah in eine bessere Welt und wollte sie um jeden Preis festhalten. Er lächelte Lisa an, und sie erwiderte sein Lächeln.
Noch bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, waren die Möbel, das Fernsehgerät, einfach alles um ihn herum, weg, wie vom Erdboden verschluckt. Er befand sich in einem vollkommen leeren Raum,
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