Letzte Ausfahrt Neckartal
der Straße atmete er die kalte Nachtluft ein und blickte dem weißen Hauch nach, der sich in der Dunkelheit auflöste. Vom schwarzen Himmel flimmerten ihm Abertausende Sterne entgegen. Er suchte nach den Sternbildern, die er schon seit seiner Jugend kannte, und entdeckte den Großen Wagen, Kassiopeia und das Sternbild der Zwillinge. Die Nacht war mit einem Mal so schön, dass er trotz der späten Stunde beschloss, einen Spaziergang um den Block zu machen. Zu Hause dann würde er Led Zeppelins »Stairway to Heaven« auflegen und einfach nur zuhören.
9
Donnerstag, 13. April
Treidler saß schon vor acht Uhr hinter dem Schreibtisch am Telefon und versuchte sein Glück bei Jürgen Albrecht, dem Nachttankwart der Rastanlage Neckartal. Und so früh am Morgen nahm tatsächlich jemand ab.
In reichlich überhöhter Lautstärke teilte Albrechts Frau Treidler mit, dass sie eigentlich schon fort sein sollte. Es folgte ein übermäßig in die Länge gezogenes Gejammer, bis sie schließlich auf ihren Mann zu sprechen kam. Der sei inzwischen von seiner Schicht nach Hause gekommen, stehe im Moment jedoch unter der Dusche. Nach ein paar kurzen, aber lautstarken Anweisungen seiner Frau erklärte sich dieser bereit, in der nächsten halben Stunde auf der Polizeidirektion vorbeizukommen. Treidler gab seinen Namen und die Zimmernummer durch, bedankte sich artig und legte auf, bevor sein Trommelfell Schaden nehmen konnte.
Kurze Zeit später traf Melchior ein, und Treidler informierte sie über seinen Erfolg bei Richter. Kaum hatte er geendet, klopfte es schon. Nach seiner Aufforderung öffnete sich langsam die Tür, und ein spindeldürrer Mann trat ein. Die bleiche Gesichtsfarbe erinnerte Treidler sofort an Emil Richter, den anderen Tankwart der Rastanlage. Doch im Gegensatz zu ihm war Albrecht deutlich jünger – vielleicht Mitte bis Ende dreißig. Dunkle, kurz geschorene Locken, die stellenweise noch nass glänzten, umrahmten sein hageres Gesicht mit dem spitzen Kinn. In seiner verschlissenen Cordhose und der viel zu großen Lederjacke wirkte er etwas unbeholfen.
»Ich heiße Albrecht, Jürgen Albrecht.« Er redete leise, und seine Augenlider zuckten. »Sie wollten mit mir sprechen?«
»Ja, kommen Sie herein, Herr Albrecht, und nehmen Sie Platz.« Treidler deutete zu dem kleinen Tisch mit vier Besucherstühlen.
Wie in Zeitlupe kam Albrecht der Aufforderung nach und setzte sich voller Unbehagen auf die vordere Kante eines der Stühle. Treidler und Melchior nahmen ihm gegenüber Platz.
»Mein Name ist Wolfgang Treidler. Ich bin Hauptkommissar. Das hier ist meine Kollegin Carina Melchior. Wir untersuchen den Mordfall auf der Rastanlage Neckartal.«
Albrecht neigte den Kopf und blinzelte.
»Sie haben sicherlich davon gehört«, fuhr Treidler in einem beiläufigen Tonfall fort, um die Unsicherheit des Mannes nicht noch weiter zu steigern.
»Wir sprechen seit Tagen von nichts anderem«, sagte Albrecht mit leiser Stimme und schielte zu Melchior.
Treidler konnte sich nicht vorstellen, wie Albrecht sich in dieser niedrigen Lautstärke bei seiner Frau Gehör verschaffen wollte. Vermutlich nahm sie ihn nur selten wahr.
»Und was meinen die Kollegen so?«
»Eine ziemlich scheußliche Sache.« Albrechts Stimme klang allmählich sicherer. »Keine fünfzig Meter neben mir. Das kann einem richtig Angst machen. Meine Frau hat’s schon ein paarmal gesagt.«
»Was gesagt?«
»Dass ich die Tagschicht nehmen soll. Die Rastanlage ist ein gefährliches Pflaster, besonders nachts. Da treibt sich Gesindel herum, das können Sie sich nicht vorstellen. Letzten Herbst wurden wir sogar überfallen.«
»Sie?«
»Nein, ein Kollege. Aber trotzdem …« Albrecht nickte vehement, als ob diese Geste seinen Worten mehr Gewicht verleihen könnte.
»Gut. Kommen wir zurück zur Nacht auf den Montag. Auf dem Parkplatz hinter dem Raststättengebäude hat ein weißer Opel Kadett gestanden, und zwar schon seit mindestens acht Uhr sonntagabends. Können Sie sich daran erinnern?«
»Klar. Eine alte Karre mit lauter Beulen und Rostflecken, und der hatte kein deutsches Kennzeichen.«
»Haben Sie den Fahrer gesehen?«
»Nicht nur einmal. Ein Blonder mit so langen, verfilzten Locken. Ein Polacke oder Russe. Er kam ein paarmal zu mir herein und hat ein paar Sachen gekauft.«
»Hat er sich auffällig benommen?«
»Abgesehen davon, dass das Zeug garantiert für zwei oder drei Leute gereicht hätte?«
»Sie wissen noch, was er bei Ihnen gekauft hat?«,
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