Letzte Ausfahrt Neckartal
besser darin, manche schlechter. Und Onkel Horst war der Beste.«
» Onkel Horst?«
Melchior schaute kurz auf und lächelte. »Er ist nicht mein richtiger Onkel. Ich nenne ihn nur so.« Ihr Blick wanderte zurück zum Computermonitor. »Er hat mir dieses Pingpong-Spiel programmiert, das damals im Westen so populär war. Bei ihm zu Hause durfte ich es auf seinem Röhrenfernseher spielen. Da war ich vielleicht zehn, zwölf Jahre alt …« Sie blickte auf irgendetwas auf dem Monitor, während ihre Finger wie erstarrt über der Tastatur hingen.
»Melchior …« Etwas an ihrer Geschichte passte Treidler überhaupt nicht.
»Ja?«
»Woher kennen Sie diesen Stankowitz?«
Statt einer Antwort tippte Melchior etwas auf der Tastatur.
»Was machen Sie da überhaupt?« Scheinbar interessierte sie sich mehr für den Computer als für seine Fragen. »Ich versuche, mit Ihnen zu reden.«
»Das geht mir bei Ihnen oft so.« Sie machte keinerlei Anstalten, mit der Tipperei aufzuhören. »Ich bin gleich fertig.«
»Mit was denn?« Nicht, dass er die Idee, diesen Horst Stankowitz zu kontaktieren, schlecht fand, aber allmählich ging ihm Melchiors Geheimniskrämerei auf die Nerven.
Nach ein paar Sekunden schob sie die Tastatur beiseite. »Ich habe Onkel Horst die Dateien vom USB -Stick geschickt. Vielleicht kann er uns ja tatsächlich weiterhelfen.«
»Ich will immer noch wissen, woher Sie den Mann kennen. Schließlich schicken Sie ihm gerade Beweismittel, von denen nicht einmal das BKA Kenntnis hat.«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir haben im Moment nichts Besseres vor.« Melchior verheimlichte ihm etwas, da war Treidler sich sicher. Er konnte nicht verhindern, dass eine gehörige Portion Ungeduld in seiner Stimme mitschwang.
»Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war.« Melchior nestelte an ihrem Halstuch herum. »Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Mein Vater hatte fast jeden Tag Dienst, oft auch über Nacht. Nachmittags nach der Schule bin ich immer zu Ina gegangen, Horsts Frau. Sie hatten keine eigenen Kinder und haben sich die ganzen Jahre über um mich gekümmert. Wenn Vater abends nach Hause kam, holte er mich bei Horst und Ina ab. Manchmal hab ich auch bei den beiden übernachtet und bin von dort aus am nächsten Tag wieder zur Schule.«
Beim Erzählen blickte Melchior ins Nichts. Trotz der vielen Jahre, die seither vergangen waren, schienen die Erinnerungen bei ihr immer noch sehr präsent zu sein. Treidler nickte ihr zu. »Und später, nach der Wende? Haben Sie sich aus den Augen verloren?«
»Tante Ina ist ein paar Monate vor dem Mauerfall gestorben. Sie hatte Krebs. Und Onkel Horst – sicher, ich wohnte ja schon lange nicht mehr dort. Aber ich telefoniere regelmäßig mit ihm. Sie müssen wissen, er lebt ziemlich zurückgezogen. Mit dem, was nach der Wende geschah, ist er nie klargekommen. Wie so viele andere.«
»Und Sie?«
Melchior hob die Achseln. »Als alles zusammengebrochen ist, hat uns viel, sehr viel von der Jugend unterschieden, die in Hamburg oder München aufgewachsen ist.«
»Na ja, letztlich ist doch alles besser geworden?«
»Typische Wessi-Meinung.« Sie verzog den Mund zu einem abfälligen Lächeln. »In meinem Bekanntenkreis waren etliche Menschen, die nicht mehr wussten, was richtig oder falsch war.«
»Aber die Veränderung haben die Leute doch selbst angestoßen? Parteigründungen, Montagsdemos und die ganzen anderen Proteste.«
»Natürlich.« Melchior ließ die Schultern hängen. »Nachdem sie vierzig Jahre lang relativ zufrieden in der DDR gelebt hatten. Niemand denkt daran, dass mit dem plötzlichen Umbruch auch viel Angst verbunden war.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Bitterkeit war wie ausgeknipst. Sie zog die Augenbrauen zusammen, und ein harter Zug legte sich um ihren Mund.
»Warum sind Sie denn so aufgebracht?«, fragte Treidler. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
Melchior verdrehte die Augen. »Weil heute alles mit diesem verklärten Blick gesehen wird. Damals während der Wende wurde einem überall gesagt, wie toll das ist, was im Moment passiert. Freiheit ist toll, der Kapitalismus ist toll, Geld ist toll.«
»Ganz so schlecht, wie Sie gerade tun, sind die westlichen Wertevorstellungen nun auch wieder nicht.«
Melchior funkelte ihn an. »Wissen Sie, wie die neunziger Jahre in Ostdeutschland begonnen haben? Überall sind Supermärkte und andere Konsumtempel aus dem Boden geschossen. Aus dem Westen sind zuerst die
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