Letzte Ausfahrt Neckartal
dessen Wände aus Gitterstäben bestanden. Das Gefühl von Angst machte sich in ihm breit: Lisa war in Gefahr.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Fußboden aus blankem Beton bestand und er keine Schuhe anhatte. Treidler sprang auf. Er wollte Lisa in den Arm zu nehmen, sie spüren. Doch er fasste ins Leere. Da gab es nichts, nach dem er greifen konnte.
Lisa seufzte. »Lass mich gehen, Wolfgang. Lass mich endlich gehen.«
»Was ist mit dir, Lisa?« Waren es tatsächlich seine Lippen, die diese Worte geformt hatten?
»Du kannst nicht bei mir bleiben. Sie werden dich finden, und sie werden dich zerstören.«
»Wer, Lisa, wer wird mich finden?«
Doch Lisa antwortete nicht. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle war da etwas anderes, etwas, das ihn beobachtete. Und es kam näher. Zuerst langsam, dann immer schneller. Plötzlich stand es so dicht vor ihm, dass er spüren konnte, wie jemand atmete: ein gesichtsloser Schatten. Treidler konnte sich nicht bewegen. Der Schatten hob eine Hand, in der etwas Längliches lag. Er holte damit aus und ließ den Arm mit voller Wucht nach unten fallen.
Treidler schnappte nach Luft. Er saß im warmen Sessel in seinem Wohnzimmer. Vor ihm flackerte bläulich der Fernseher. Nur allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Licht. Auf seinem T-Shirt breitete sich ein Fleck aus. Im Schlaf hatte er einen guten Teil des Flascheninhalts über sich geleert. Der Gestank des Alkohols hing in der Luft. In seinem Hals brannte der Wein wie Feuer. Ihm wurde übel. Sein eigener Geruch ekelte ihn an.
Als er sich nach vorne beugte, hätte er sich fast übergeben. Er blieb sitzen, lehnte den Kopf zurück und atmete ruhig. Nach einer Weile verschwanden Übelkeit und Schwindel. Dafür begannen Kopfschmerzen, die auch nicht nachließen, als er das plärrende Fernsehgerät ausschaltete und ihn Dunkelheit umschloss. Eine kaum zu ertragende Stille breitete sich im Raum aus. Nicht einmal von der Straße drang ein Geräusch in die Wohnung. Es musste weit nach Mitternacht sein.
Verfluchter Alkohol. Die letzten Monate hatte Treidler damit jegliche Gefühle betäubt. Freilich wollte er damit nur die schlechten Gefühle treffen, doch auch die guten empfand er nicht mehr. Es war wie mit seinen alten Langspielplatten, die er sich nicht mehr anhörte. Früher hatte er sich gefreut, wenn mit reichlich Knistern ein Song von AC / DC , den Stones oder Led Zeppelin aus dem Lautsprecher gekommen war. Und heute? Es existierte nur noch der immer gleiche Tagesablauf: aufstehen, Dienst bis spätabends, saufen. Wie bei einem Kratzer auf der Schallplatte. Die Nadel sprang immer wieder an die gleiche Stelle zurück, gleiche Stelle zurück, gleiche Stelle zurück …
Bei seinen Schallplatten konnte er die Nadel an einer anderen Stelle aufsetzten. Aber was blieb ihm, wenn vor lauter Einsamkeit die Zeit stillzustehen schien. Der Alkohol? Warum zum Teufel tat er sich das immer wieder an?
Treidlers Strategie, prima allein zurechtzukommen, nichts und niemanden zu brauchen, schlug Tag um Tag aufs Neue fehl. Seit Melchior seine Partnerin war, spürte er, dass neben seiner Verbitterung über den Verlust von Lisa noch so viel mehr existierte. Doch immer wieder zog er sich auf diese verdammte Insel der Scheinfreiheit zurück. Schließlich fühlte er sich doch wohl in Melchiors Nähe.
Der Traum, diese seltsame Angst – ein sonderbarer Abend. Zum ersten Mal kreisten seine Gedanken nicht wie ein Mühlrad um Lisas Tod und seine Schuld daran. Treidler schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Er wollte diesem Teufelskreis entkommen. Er wollte die Nadel an einer neuen Stelle aufsetzen, die Musik wieder hören können. Und mit dem Alkohol würde er beginnen.
Noch nie war er von einer Sache so überzeugt gewesen. Trotzdem rumorte es in seinen Eingeweiden. Sein Körper schien mit dem Vorhaben nicht einverstanden zu sein und begehrte auf. Wieder konnte er nur mit Mühe den Brechreiz unterdrücken. Beim Versuch aufzustehen wäre er fast gestürzt. Er schaffte es ohne Blessuren ins Bad und duschte so lange, bis kein warmes Wasser mehr aus der Leitung kam. Er zog einen kompletten Satz frischer Kleidung an und stülpte sich seine alten Cowboystiefel über, die er im Kleiderschrank unter einem halben Dutzend Jeans entdeckte.
Wieder im Wohnzimmer, suchte Treidler alle Schränke nach Alkohol ab und packte die Flaschen in die größte Tüte, die er finden konnte. Er zog den Mantel über, ging nach unten und entsorgte alles im Mülleimer. Auf
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