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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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Treidler an sein eigenes Jugendzimmer. Es gab ein Bett, einen Kleiderschrank und zwei Regale, alles aus Holzimitat und mit mintgrünen Seitenteilen. In den beiden Regalen stapelten sich Bücher, Zeitschriften und allerlei Krimskrams. Auf den zweiten Blick registrierte Treidler erstaunlich viele Pokale und Medaillen. Zwischen den obligatorischen Fotografien an der Wand hing ein halbes Dutzend Wimpel und Abzeichen, wovon er lediglich das FDJ -Emblem identifizieren konnte.
    »Du hast ja die Wand rausgemacht.« Melchior ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. »Wieso hast du mir das nie gesagt?«
    »Ich bin allein, und ich brauchte den Platz. Aber ich hab es nie übers Herz gebracht, es dir zu sagen.« Stankowitz’ Worte klangen beinahe wie eine Entschuldigung. »Aber wie du siehst, deine Möbel stehen immer noch an ihrem Platz. Und das Bett habe ich frisch bezogen. Wenn du willst, kannst du hier schlafen. Und für deinen schwäbischen Wachtmeister finden wir sicher auch einen Platz.«
    »Danke, Onkel Horst, aber ich habe uns zwei Zimmer vorne im Paradies gebucht. Den Preisen nach muss das inzwischen ein richtiges First-Class-Hotel geworden sein.«
    »Das kannst du laut sagen. Dort steigen nur noch die Bonzen aus Russland ab.«
    »Du hast das ganze Zeugs aufgehoben?«
    »Klar, hier, dein geliebter › OKI ‹.« Stankowitz deutete auf einen tennisballgroßen Stoffvogel, der an einem Gummiband von der Decke baumelte. Er war ganz aus rotem Plüsch und hatte sein Maul weit aufgerissen.
    Melchior zog kurz an dem Band. Mit einem wehmütigen Lächeln sah sie dem Auf und Ab des Stofftiers zu. Sie schaute zu Treidler. »Der Spatz war das Maskottchen vom Festival des politischen Liedes. Das war damals bei uns eine der größten Musikveranstaltungen. Bis zur Wende hat es jedes Jahr hier in Berlin stattgefunden.«
    »Schöne Erinnerungen?«, fragte Treidler und dachte an seine eher unpolitische Jugendzeit mit Rockkonzerten und langen Partynächten.
    »Klar.« Ihr Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Sie haben AC / DC gehört, und ich habe mich weitergebildet und politischen Liedern aus ein paar Dutzend Ländern gelauscht.«
    »Hat’s Spaß gemacht?«
    »Natürlich.«
    Treidler trat näher an die Wand, um die Fotografien genauer betrachten zu können. Die Bilder dokumentierten das Heranwachsen eines kleinen Mädchens bis ins junge Erwachsenenalter. Niemand musste Treidler sagen, dass es sich bei dem Mädchen um Melchior handelte. Die Ähnlichkeit zu der erwachsenen Frau vor ihm war unübersehbar.
    Es gab Fotos von der Einschulung, wo sie lachend ihre Zahnlücken entblößte und eine riesige Schultüte vor sich hin hielt. Dann melancholische oder eher traurige Aufnahmen bei Familienfesten. Manchmal stand ein hochaufgeschossener, streng blickender Mann in Armeeuniform neben ihr. Nur auf einem Bild lachten beide. Da saß sie auf seinem Schoss und hatte seine Schirmmütze auf dem Kopf. Immer wieder tauchte auf den Fotos eine rundliche Frau mittleren Alters auf, die einen schüchternen, aber zufriedenen Eindruck machte – vermutlich Ina, die verstorbene Frau von Stankowitz. Nur auf wenigen entdeckte Treidler Horst Stankowitz im Rollstuhl. Er hatte sich kaum verändert. Nur seine Haare und die Augenbrauen waren grauer geworden. Die meisten Fotos jedoch zeigten Carina Melchior alleine in weißen Hosen und einer halblangen weißen Jacke, die ein farbiger Gürtel zusammenhielt. Meist präsentierte sie freudestrahlend einen Pokal, eine Medaille oder eine Urkunde. Diese Bilder reichten fast bis ins Erwachsenalter hinein.
    »Ist das ein Judoanzug?«
    »Klar, das ist Carina im Judoanzug«, bestätigte Stankowitz nicht ohne Stolz. »Sie war die jüngste Sportlerin, die zur Prüfung für den ersten Dan angemeldet wurde und sie auch bestanden hat. Damals warst du gerade mal sechzehn. Richtig, Carina?«
    Melchior nickte.
    Treidler musterte sie. »In welcher Klasse? Fliegengewicht?«
    »Ich wäre vorsichtig, Herr Wachtmeister.« Stankowitz grinste.
    »Inzwischen hat sie den zweiten Dan. Da liegt man schnell mal auf der Nase.«
    »Onkel Horst, nun übertreib nicht.«
    »Ich übertreibe nicht. Da, die Pokale.« Stankowitz deutete auf die Regale. »Sie hat damals alles gewonnen, was es zu gewinnen gab.«
    In diesem Augenblick erkannte Treidler den Sinn hinter Mehmets Bemerkung, als er seine Kollegin vor ein paar Tagen als »Ninja-Schnecke« bezeichnet hatte. Er beugte sich vor und versuchte, die Aufschrift auf den Pokalen und

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