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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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wo die Häuser am dichtesten standen, brachen immer wieder Sonnenstrahlen durch die Wolken. Das schnelle Spiel von Licht und Schatten erzeugte ein seltsam unruhiges Bild. Es wirkte wie das Symbol einer Stadt, deren Gegensätze größer nicht sein könnten. Einer Stadt mit viereinhalb Millionen Menschen aus Dutzenden von Kulturen, die versuchten, sich miteinander zu arrangieren.
    Treidler und Melchior setzten sich in das erste Taxi der schier endlosen Schlange vor dem Flughafengebäude, und Melchior nannte ihr Ziel. Wahrscheinlich hätten sie besser das nächste Fahrzeug nehmen sollen. Denn Sergej, ihr russischer Fahrer, heizte durch die Straßen, als ob sie ihm alleine gehörten. Zu der schauderhaften Balalaika-Musik schwang ein russisch-orthodoxes Holzkreuz am Spiegel hin und her wie das Pendel einer Wanduhr. Erst nach Treidlers Bemerkung, dass Polizeibeamte auch außerhalb ihrer Dienstzeit Strafmandate ausstellen konnten, beruhigte sich sein Fahrstil etwas.
    Nach der Zufahrtsstraße zum Tegeler Flughafen bog er auf den viel befahrenen Stadtring Richtung Osten ein. Nach einer guten Viertelstunde erreichten sie den Stadtbezirk Pankow. Sergej bog nach Norden ab und folgte der Prenzlauer Promenade Richtung Heinersdorf. Treidler betrachtete die Häuserfassaden. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier immer noch so aussah wie vor dem Mauerfall. Es gab kaum Gebäude aus der Vorkriegszeit. Statt der Bürgerhäuser, die in Charlottenburg, im Wedding und anfangs auch in Pankow das Straßenbild prägten, standen hier auf einer Straßenseite die typischen Plattenbauten und auf der anderen hässliche Glas- und Metallpaläste.
    Nachdem er zwei weitere Male abgebogen war, hielt Sergej sein Taxi in zweiter Reihe vor einigen kastenförmigen Mietshäusern aus dunklem Sandstein. Er störte sich offensichtlich nicht daran, dass er die vollgeparkte Straße blockierte und sich binnen Sekunden auf beiden Seiten wütende und hupende Autofahrer stauten. Treidler bezahlte, beließ es jedoch in Anbetracht der ungemütlichen Fahrt bei einem kleinen Trinkgeld.
    Melchior war ausgestiegen und ließ den Blick über die dunkle Häuserfront gleiten. Treidler trat neben sie und folgte ihrem Blick. Die streng wirkenden Gebäude stammten aus der Anfangszeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Es gab keine Parkplätze oder Vorgärten. Gleichwohl schienen sich die Bürger damit arrangieren zu können. Aus dem vollkommen zugeparkten Bürgersteig wuchsen in regelmäßigem Abstand mächtige Bäume, die von kreisförmigen Bänken umgeben waren. Und dieses Stück Asphalt bildete Gehweg, Parkplatz, Abstellfläche und Garten gleichermaßen. Meist blieb nur eine schmale Gasse übrig, um die Durchfahrt zum Innenhof frei zu halten.
    Melchior schaute zum Haus mit der Nummer einhundertachtundvierzig hinüber. Es unterschied sich kaum von den anderen Gebäuden. Lediglich der Sockel bestand aus Backsteinen, und durch die größeren Fenster wirkte die Fassade nicht ganz so dunkel. Wortlos deutete Melchior auf das Haus und ging darauf zu.
    Hinter dem Durchgang zum Innenhof schloss sich auf der rechten Seite das Treppenhaus mit breiten Stufen aus altem grauen Sandstein an. Die Haustür stand offen. Auf dem Flur, der hinüber zur Treppe führte, roch es nach Kohl und Kartoffeln. Musik schlug ihnen entgegen, und ein Schwall von Stimmen hallte durch das Gebäude. Entschlossen ging Melchior voran, und nach wenigen Stufen befanden sie sich im Parterre. Direkt nebeneinander führten zwei notdürftig mit dunkelbrauner Farbe übermalte Holztüren ab. Nur mit einiger Mühe konnte Treidler an der linken Tür die ausgebleichten Buchstaben auf Klingel und Namensschild als »H. Stankowitz« entziffern.
    »Hier sind wir«, sagte Melchior leise, als ob sie mit sich selbst sprechen würde. Sie atmete tief durch und klingelte. Wahrscheinlich wäre sie in diesem Augenblick am liebsten wieder gegangen.
    Schneller als erwartet schwang die Tür nach innen, und ein gut sechzigjähriger Mann schob sich mit dem Rollstuhl in den Eingang. Im Halbdunkel des Flurs wirkte alles an ihm grau: Haare, Haut, Kleidung. Sogar die Decke mit der Aufschrift »Grenztruppen« über seinen Beinen. Eine altmodische Hornbrille mit dicken Gläsern dominierte das fahle, von tiefen Falten durchzogene Gesicht.
    Melchior zögerte nur einen winzigen Moment. »Hallo, Onkel Horst.« Sie beugte sich zu Stankowitz hinunter, hauchte ihm ein Küsschen auf die Wange und umarmte ihn. »Du siehst klasse

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