Letzte Ausfahrt Neckartal
Urkunden zu entziffern. Neben diversen Turniersiegen und Schulmeisterschaften entdeckte er drei fast identische Urkunden, verliehen dem »Deutschen Jugendmeister Frauen« in den Jahren 1986, 1987 und 1988.
»Und wenn die Mauer nicht gefallen wäre – wer weiß?« Stankowitz strahlte. »Vielleicht hätten wir Carina in der Olympiamannschaft 1992 in Barcelona gesehen. Damals wurden zum ersten Mal die Judo-Wettbewerbe auch für Frauen ausgetragen.«
»So, jetzt ist aber gut«, unterbrach ihn Melchior schnell. »Wir sind nicht wegen meiner Jugendbilder hier, sondern wegen dem da.« Mit einem Ruck zog sie den Miniaturfußball auseinander und reichte den Teil mit dem USB -Stick weiter. »Den wolltest du dir anschauen.«
Stankowitz krempelte die Ärmel seiner grauen Wollweste bis hoch zu den Ellenbogen und entblößte seine kräftigen Unterarme. Er schaltete den Computer ein, und sofort heulte das Gerät auf, als ob er eine Turbine gestartet hätte. Eindeutig handelte es sich nicht um ein gewöhnliches Exemplar aus dem Supermarkt von nebenan. Er steckte den USB -Stick ein, nahm die Tastatur auf den Schoß und blickte für ein paar Sekunden auf den Bildschirm. Gleich darauf hämmerte er auf die Tastatur ein, und es begann ein wahres Stakkato aus Tastenanschlägen. Der Monitor füllte sich mit unverständlichen Zahlenkolonnen.
11
Wie kahle Bäume ragten am Ende der Straße die Masten und Taue der unzähligen Segelboote in den wolkigen Himmel. Irgendetwas stimmte nicht, hämmerte es pausenlos in Mehmets Kopf, während er mit zielgerichteten Schritten die Konstanzer Bodanstraße in Richtung Hafen entlangging. Was es war, konnte er nicht recht in Worte fassen, doch er spürte die Bedrohung mit jeder Faser seines Körpers. Wahrscheinlich lag es nur an seiner zunehmenden Nervosität. Nur noch einer, vielleicht zwei Kilometer trennten ihn von der Schweiz, wo sein Onkel eine kleine Gaststätte betrieb und wo er sich die nächsten Monate verstecken konnte. Endlich wäre er dort vor der deutschen Polizei in Sicherheit, nachdem er die letzten beiden Tage die Strecke von Rottweil nach Konstanz mit Bussen, Regionalzügen und zu Fuß oder per Autostopp hinter sich gebracht hatte.
Vor Kurzem hätten sie ihn fast geschnappt. Während er nichts ahnend in Villingen am Bahnhof auf den Zug nach Konstanz wartete, waren wie aus heiterem Himmel Polizeifahrzeuge aufgetaucht. Die Beamten sperrten die Zugänge und führten auf dem Bahnsteig eine Personenkontrolle durch. Gerade noch rechtzeitig konnte er auf die Gleise springen, hinter einer herannahenden Rangierlok verschwinden und sich im Gebüsch verstecken, bis sie ihre Kontrolle beendeten. Den Zug hatte er in der Zwischenzeit verpasst, und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich trampend auf die Landstraße nach Donaueschingen zu stellen.
Das war noch gestern Mittag gewesen. Während er am Straßenrand auf eine Mitfahrgelegenheit gehofft hatte, war ihm bewusst geworden, dass sie ihn suchten. Mit seinen auffallenden langen Haaren und der Beşiktaş-Schirmmütze würde er nicht weit kommen. Er verschob seinen Plan und stahl sich in der Villinger Innenstadt einen kompletten Satz neuer Kleidungstücke zusammen. Im Drogeriemarkt ergatterte er sogar eine blonde Lockenperücke – ein Überbleibsel des letzten Karnevals. Seither trug er eine dunkelbraune Cordhose, ein kariertes Holzfällerhemd und einen dunkelgrünen Parka. In diesen Spießerklamotten würde ihn niemand erkennen.
Bei seinen nächsten Schritten verstärkte sich das Gefühl von Gefahr weiter. Wild schaukelten die Spitzen der Segelmasten vor den Wolken, die mit einem Mal viel dunkler wirkten. Er ging langsamer, ganz so, als wäre er auf einem Einkaufsbummel. Dann blieb er stehen und sah sich um – nichts. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau mit Kinderwagen, die mit dem Handy telefonierte, während sie das Deckchen im Wagen glatt strich. Mehmet schüttelte den Kopf. Er machte sich einfach zu viele Sorgen. Er checkte kurz die Klamotten in dem Schaufenster auf seiner Straßenseite und schlenderte weiter. Denn immer noch war er überzeugt davon, dass ihn niemand in dieser blonden Perücke und den idiotischen Klamotten erkannte.
Er überquerte die Hafenstraße und trat auf das Gleisfeld, das vom Bahnhof in Richtung Süden, in Richtung Schweiz führte. Hier in den Wirren der Schienen war der Grenzübergang unübersichtlich und im Grunde nicht bewacht. Die Bodensee-Arena in kaum zweihundert Metern Entfernung
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