Letzte Ausfahrt Neckartal
schleifen mich allen Ernstes in einem beschissenen Flugzeug zu einem ehemaligen Stasimitarbeiter …« Er richtete sich auf. »… und … und verlangen von mir, dass ich mit ihm zusammenarbeite?«
Die Köpfe einiger Passagiere fuhren herum, und ein halbes Dutzend kritischer Augenpaare musterten Treidler und Melchior, als stünden sie kurz vor einer Prügelei. Eine ältere Frau in hellgrüner Karobluse stieß ihrem Sitznachbarn den Ellenbogen in die Rippen und deutete mit dem Kinn in ihre Richtung. Sie wandte ihm den Kopf zu und flüsterte etwas in sein Ohr.
»Ja«, entgegnete Melchior knapp.
»Das hätten Sie mir auch schon früher sagen können.« Er senkte seine Stimme etwas, und die anderen Fluggäste verloren das Interesse an der Diskussion. Nur die Frau mit der Karobluse beobachtete sie weiter.
»Wären Sie dann mit nach Berlin?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Treidler. »Dann wäre mir auch dieses Scheiß-Flugzeug erspart geblieben.«
Wieder begann die Frau mit der Karobluse mit ihrem Sitznachbarn zu tuscheln.
»Sehen Sie.«
Treidler starrte Melchior an. Sie wirkte unsicher. »Das können Sie vergessen, Melchior – komplett vergessen.«
»Was soll das heißen?«
»Ich nehme die nächste Maschine zurück nach Stuttgart. Das soll es heißen.« Er wandte seinen Kopf ab. Glaubte Melchior tatsächlich, er würde sich mit einem ehemaligen Stasi-Spitzel treffen?
»Treidler, hören Sie …«, sagte Melchior leise.
»Ich will nicht darüber diskutieren.« Er stierte auf die Sicherheitsbroschüre, die in der Lehne des Vordersitzes steckte.
Melchior ließ sich zurückfallen und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie sagte nichts mehr, und auch Treidler schwieg für den Rest des Flugs.
Als der Airbus nach etwas mehr als einer Stunde Flugzeit durch die Wolken stieß, wagte Treidler zum ersten Mal einen Blick durch das Fenster. Wie auf einem Gitter breiteten sich in einer ausgedehnten Ebene nahezu quadratische, von rechtwinkligen Straßen scharf abgegrenzte Häuserblöcke und Grünflächen aus. Schnell wurden die Straßen, Gebäude und Parkanlagen am Boden größer, und zuerst sah es so aus, als ob das Flugzeug mitten in der Stadt landen wollte. Doch bevor die ersten Häuser zum Greifen nahe kamen, riss die Besiedlung ab, und das Flugfeld mit seiner weiten Grünanlage nahm Gestalt an. Knapp vor dem Aufsetzen tauchte die kurze Landebahn auf, die im nächsten Häuserblock der Innenstadt zu enden schien. Direkt dahinter ragten Hochhäuser gen Himmel.
Melchior saß mit versteinerter Miene auf einer unbequem aussehenden Sitzbank aus Metallgitter, als Treidler vom Air-Berlin-Schalter zurückkam.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben Glück. Bei Air Berlin gibt es heute keine freien Plätze mehr nach Stuttgart. Nur nach Frankfurt oder morgen früh wieder.«
Melchior nickte nur.
»Ich versuche es drüben bei der Lufthansa.«
Er wollte sich schon auf den Weg machen, da stand sie unvermittelt auf und trat ihm in den Weg. »Wollen Sie wissen, was auf dem USB -Stick ist?« Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und blickte ihn herausfordernd an.
Treidler sah ihr für einen Moment in die Augen. Ein großer Teil seines Zorns auf sie verflüchtigte sich. »Natürlich will ich wissen, was auf dem USB -Stick ist. Ich habe schließlich vor, den Fall zu lösen. Aber nicht so – nicht mit Hilfe der Stasi.«
»Hören Sie doch damit auf. Die Stasi existiert nicht mehr. Trotzdem können wir vom Wissen einiger Ehemaliger profitieren.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich mich auf diese Diskussion einlasse.« Treidler wollte sich an ihr vorbeidrängen.
Wieder versperrte sie ihm den Weg. »Lassen Sie mich einen Vorschlag machen …«
Treidler hielt inne. »Ich höre.«
»Sie begleiten mich zu Horst Stankowitz, und wir reden mit ihm. Falls Ihnen irgendetwas an ihm nicht passt, können Sie morgen mit dem ersten Flieger wieder zurück.«
»Sie sind … Sie sind …« Er suchte nach Worten. Verdammt, er konnte ihr die Bitte nicht abschlagen.
»Was?«
»Völlig verrückt.«
»Vielleicht«, entgegnete Melchior, »aber ich bin nicht die einzig Verrückte von uns beiden.« Sie drehte sich um und setzte sich in Richtung Ausgang in Bewegung.
In Berlin war es deutlich kühler und windiger als beim Abflug in Stuttgart. Die Natur hier im Nordosten Deutschlands lag um Wochen zurück. Die meisten Bäume und Sträucher schienen noch im Winterschlaf; lediglich einige wenige trugen bereits grüne Blätter. Am Horizont, dort
Weitere Kostenlose Bücher