Letzte Ausfahrt Neckartal
Liegefläche, um Melchior aus dem Weg zu gehen. Er blätterte in der Sonntagsausgabe der FAZ , die er zuvor an einem Kiosk gekauft hatte. Ein halbseitiger Bericht über die weltweite Datenspionage durch Geheimdienste fand sein Interesse.
Nachdem Treidler den Artikel fertig gelesen hatte, war Melchior in ihrem Bett in der zweiten Etage verschwunden, und er fand Platz, um seine Zähne zu putzen. Als er sich gerade die Hose ausziehen wollte, fuhr der Zug mit einem Ruck an. Wäre das Abteil größer gewesen, hätte er der Länge nach auf dem Boden gelegen. So jedoch konnte er sich gerade noch an der Kabinenwand festhalten, stieß sich allerdings den Oberschenkel am Klapptisch. Fluchend rieb er die schmerzende Stelle und beschloss, sich vorerst angekleidet hinzulegen.
Bedauerlicherweise hatte er richtig vermutet. Die Liegefläche reichte nicht aus, um sich auszustrecken. Er zog die Füße an und blätterte weiter in seiner Zeitung bis zum Sportteil. Während er die Spielberichte der Bundesliga vom Wochenende überflog, knackte und quietschte das Fahrgestell direkt unter seinem Bett. Besonders in Kurven verfiel der Waggon in Schaukelbewegungen, die ihn mehr an eine Schiffüberfahrt denn an eine Zugreise erinnerten. Er legte die Zeitung beiseite.
Sie fuhren durch eine dunkle Landschaft, und die Diesellok beschleunigte. Das Schaukeln steigerte sich zu einem Vibrieren, das Kabinenverkleidung und Bett gleichermaßen erfasste. Immerhin ließen damit die Geräusche des Fahrgestells nach.
Melchior schien von alldem unbeeindruckt. Schon bald verrieten ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie schlief. Draußen huschten vereinzelt Lichter vorbei, wenn sie Gebäude oder eine Bahnschranke passierten. Treidler schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Zuerst schien es, als ob ihn das monotone Klopfen der Schienennähte in den Schlaf wiegen würde. Doch sobald der Zug abbremste oder über Weichen ratterte, schreckte Treidler auf. Richtiger Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er döste mehr oder weniger entspannt vor sich hin, jedoch immer nur so lange, bis der Zug einen Bahnhof anlief und ein großes Tohuwabohu auf dem Gang ausbrach.
Als sich der Krawall beim nächsten und übernächsten Halt wiederholte, beschloss Treidler, das Zugrestaurant aufzusuchen und so lange dort zu bleiben, bis ihm die Augen zufielen. Die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr zeigten kurz nach halb vier, als er versuchte, so geräuschlos wie möglich das Abteil mit der tief und fest schlafenden Melchior zu verlassen. Dies gelang ihm allerdings nur, bis er sich schon wieder den Oberschenkel am Klapptisch anstieß. Leise fluchend hielt er sich die schmerzende Stelle und hüpfte auf einem Bein nach draußen. Er lehnte sich an die Tür, bis die Schmerzen nachließen, und folgte den Wegweisern Richtung wagon m restauracyjny . Mit dem Symbol gekreuzter Messer und Gabel erschloss sich ihm auch ohne polnische Sprachkenntnisse die Bedeutung.
Im Zugrestaurant herrschte gähnende Leere. Neben dem uniformierten Bediensteten hinter der Theke lehnte nur eine große, athletisch wirkende Frau mit schulterlangen, feuerroten Haaren an einem Tisch. Die Einrichtung versprühte Wohnstil und Ambiente der frühen siebziger Jahre. Vor den Fenstern linker Hand reihten sich schmale Tische mit noch schmaleren Sitzbänken aus verschlissenem rotem Leder. Die Hussen auf den überhohen Lehnen bestanden aus dem gleichen hellbeigen Stoff wie die Tischdecken. Die gegenüberliegende Seite teilten sich eine größere Kabine mit heruntergelassenen Rollläden sowie eine Schanktheke.
Die Rothaarige stand an einem der fünf Stehtische, die den übrigen Platz einnahmen. Die Rocklänge ihres schwarzen, mit Strass besetzten Minikleides reichte kaum aus, um die Pobacken unter der feinmaschigen Netzstrumpfhose zu bedecken. Sie stand seitlich zur Tür und schwang die Hüften, während sie an den Enden der roten Federboa um ihren Hals herumspielte. Treidler drängte sich die Vermutung auf, dass mit der Frau etwas nicht stimmte.
Mit dem Zischen der automatischen Tür flog ihr Kopf herum, als ob sie nur auf diesen Moment gewartet hätte. Die Rothaarige verzog ihr auffällig geschminktes Gesicht mit den knallroten Lippen zu einem Lächeln. Es wirkte nicht wie die Begrüßung zweier Menschen, die sich zum ersten Mal begegneten, sondern ihre Mimik schien genauso unecht zu sein wie ihre Körperhaltung. Ihr Blick wanderte zu dem Mann hinter der Theke, mit dem sie ein paar polnische Worte austauschte, bis der
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