Letzte Ausfahrt Neckartal
den Kopf schüttelte. Die Frau drehte sich wieder Treidler zu, griff nach einem silbernen Zigarettenetui auf dem Tisch und klapperte damit. Schließlich öffnete sie den Deckel, zog eine überlange Zigarette heraus und ließ sich von dem Mann hinter der Theke Feuer geben. Die ganze Szene wirkte auf Treidler, als ob sie lediglich eine Rolle wie in einem Film spielte.
Er beschloss, die Frau zu ignorieren, und lehnte sich an den nächsten freien Stehtisch. Über der Theke hing eine Getränkekarte, und er versuchte, das Angebot zu entziffern. Aber nicht nur die polnischen Bezeichnungen, sondern auch die krakelige Kreideschrift hinderten ihn daran. Da kam die Rothaarige auf ihn zu, und in diesem Augenblick erkannte Treidler, was ihn die ganze Zeit über an ihr gestört hatte: der Gang, die athletische Figur und nicht zuletzt der ausgeprägte Adamsapfel hatten nichts Feminines an sich. Es handelte sich nicht um eine Frau, sondern um einen Mann in Frauenkleidern.
»Jestem Kim«, sagte der und klimperte mit seinen aufgeklebten Wimpern.
»No Polish, sorry«, entgegnete Treidler. Er hoffte, dass die unüberbrückbare Sprachbarriere jeden weiteren Small Talk mit dem aufgetakelten Kerl beendete.
»Du bist also Deutscher«, stellte der Mann in Frauenkleidern mit einem kaum wahrnehmbaren polnischen Akzent fest. »Ich bin Kim. Und wie soll ich dich nennen?«
»Ich steh nicht auf Kerle«, gab Treidler zurück und blickte an ihm vorbei zur Getränkekarte.
»Soso, du steht nicht auf Kerle. Auf was stehst du dann?« Kim legte den Kopf schief und lächelte.
»Im Moment?« Treidler stierte stur auf die Karte über der Theke. »Auf Ruhe – ich steh einfach nur auf Ruhe …«
Trotz der deutlichen Worte kam Kim seinem Wunsch nicht nach. »Was machst du hier mitten in der Nacht zwischen Wroclaw und Katowice . Ist da keine Frau, die in deinem Abteil auf dich wartet?«
»Hast du was an den Ohren? Ich will einfach nur in Ruhe was trinken. Sonst nichts.«
»Warum so unbeherrscht?«
»Das geht dich nichts an.«
Kim warf sich die Boa über die Schulter, drehte sich ebenfalls zur Theke und fragte in einem beiläufigen Ton: »Soll ich das Getränkeangebot übersetzen?«
Treidler stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn du mich danach in Ruhe lässt.«
»Es gibt Bier in verschiedenen Größen, dann Wein aus Bulgarien oder Frankreich, Cola, Brause mit Orangen- oder Limonengeschmack und natürlich Wasser«, las Kim vor. »Cognac, Wodka und das andere hochprozentige Zeugs kannst du sicher selbst lesen. Kontuszówka ist eine Art Anisschnaps, aber leider aus. Ansonsten hat Tomasz, unser schüchterner Barkeeper mit dem witzigen Uniformmützchen, noch eine Flasche exzellenten Single Malt Whiskey aus Irland unter der Theke. Den rückt er jedoch nur gegen ein paar Euros extra heraus.«
»Hat Tomasz auch alkoholfreies Bier?«
Kim wandte sich mit ein paar polnischen Worten an Tomasz. Wortlos zog dieser eine Schublade auf, förderte eine Bierflasche hervor und reichte sie mit einem Flaschenöffner über die Theke.
»Sicher kein Alkohol?« Treidler begutachtete die Flasche mit dem unentzifferbaren Markennamen, nahezu ohne Selbstlaute.
Kim deutete auf das Etikett. »Hier schau: piwa bedeutet Bier, und bezalkoholowego ist das polnische Wort für alkoholfrei.« Er zog an seiner Zigarette und ließ den Rauch nur ganz langsam wieder zwischen den rotglänzenden Lippen entweichen.
Treidler dankte ihm mit einem Kopfnicken, öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Der Geschmack war unverkennbar. Es handelte sich tatsächlich um alkoholfreies Bier.
»Alkoholfreies Bier … was bringt einen Mann wie dich denn dazu?«, wollte Kim wissen. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie dann aus.
»Nichts.«
»Was nichts?«
»Nichts halt …«
»Du bist nicht sehr gesprächig«, stellte Kim fest. »Aber vielleicht hörst du zu, wenn ich dir eine Geschichte erzähle.«
»Ich kann mir ja schlecht die Ohren zuhalten«, gab Treidler zurück und musterte das ebenmäßige Gesicht von Kim. Die hohen Wangenknochen und seine feine Nase wiesen durchaus feminine Züge auf. Gleichzeitig wirkte sein Kinn zu ausgeprägt für eine Frau, und ein dunkler Schatten signalisierte, dass bald eine Rasur fällig war, falls er die Illusion von Weiblichkeit aufrechterhalten wollte. Unter der dicken Schicht Schminke konnte Treidler sein Alter schwer schätzen, doch er vermutete, dass Kim um die dreißig Jahre alt sein musste.
Kim lächelte, und mit
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