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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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einem Mal wirkte er nicht mehr aufdringlich, sondern schüchtern. »In einer kleinen Kattowitzer Vorstadt wuchs vor einigen Jahren ein Junge namens Karol auf. Wie alle Polen waren seine Eltern strenggläubige Katholiken. Kein Wunder bei dem Papst.« Er zuckte mit den Schultern und schmunzelte. »Die katholische Moral seines Elternhauses duldete kein Anderssein, sondern nur die unbedingte Unterwerfung unter die Gebote und Verbote der Kirche. Alles andere war ein Tabu und die Vielfalt der Menschen ein Fremdwort.«
    »Das ist bei uns heute noch nicht viel anders.« Treidler nahm einen Schluck von seinem Bier.
    »Als junger Erwachsener musste Karol sich eingestehen, dass trotz des vielen Nachdenkens über sich und seine Neigungen es niemanden gab, den er hätte fragen können.« Kim spielte mit dem silbernen Etui auf dem Tisch. Er zog erneut eine Zigarette heraus und blickte zu Treidler. »Du hast vermutlich kein Feuer.«
    Treidler schüttelte den Kopf.
    »Ach, ich rauche eh schon zu viel.« Er legte die Zigarette wieder zurück.
    »Und wie ging es mit Karol weiter?« Treidler fand inzwischen Gefallen an der Geschichte.
    Kim seufzte. »Was blieb ihm schon übrig? Er machte den Selbstversuch und zog Frauenkleider an. Zuerst die seiner Mutter, dann kaufte er selbst welche. Irgendwann traute er sich in den Röcken und Kleidern sogar aus dem Haus. Doch damit kam die Angst vor dem Entdecktwerden, die Angst, Freunde und den Boden unter seinen Füßen zu verlieren.« Wieder tastete er nach dem Etui und drehte es in den Händen hin und her. Schließlich steckte er sich doch eine Zigarette in den Mund und ließ sich von Tomasz Feuer geben.
    »Es kam, wie es kommen musste.« Kim nahm einen tiefen Zug. »Eines Tages konnte Karol sein Anderssein nicht mehr vor den Eltern verbergen. Der Vater stellte ihm ein Ultimatum: entweder zurück auf den Pfad Gottes, oder der Perversling müsse sein Haus verlassen.«
    »Und Karol … ging?«
    »Natürlich.« Kims Augen bekamen einen traurigen Glanz. »Jemand, der nach all den Jahren voller Zweifel wagt, seinen weiteren Weg ohne Lügen vor sich selbst und den anderen zu gehen, passte nicht in das verdammte katholische Weltbild von Karols Vater.«
    »Und seine Mutter?«
    »Auch das gehört zu einer katholischen Familie in Polen: Frauen haben nichts zu sagen. Alles wird von missgünstigen und geistig engstirnigen Männern bestimmt. Und zwar nur aus einem Grund: Damit sie die Macht, die sie über die Frauen haben, nicht abgeben müssen.« Kim zog an der Zigarette und schaute dem Rauch nach, der über die Bar schwebte.
    »Der Junge, von dem du mir erzählst, heißt der in Wirklichkeit Kim?«, fragte Treidler.
    »Nein, sein Name ist Karol.«
    »Der Vorname in deinem Pass, der ist Karol, nicht?«
    Kim zog ein weiteres Mal an der Zigarette. Er wartete, bis der Rauch sich verzogen hatte, dann nickte er.
    »Warum bist du heute in diesem Zug nach Kattowitz?«
    »Warum? Heute ist der Tag, an dem ich zurückkehre.«
    »Zurück zu deinen Eltern?«
    Abermals nickte Kim. »Inzwischen ist mir bewusst, dass ich meine Vergangenheit erst ruhen lassen kann, wenn ich mich ihr gestellt habe.« Er drückte die nur halb gerauchte Zigarette aus und versuchte sich mit einem Lächeln. Dann stakste Kim oder Karol, ein Mensch, der auf den ersten Blick so irritierend anders war, ohne ein weiteres Wort davon. Und nur wer ihm zugehört hatte, wusste, dass jener Mensch viel über sein Leben nachgedacht und sich mit allen Konsequenzen für diese Facette entschieden hatte. Auch hatte er Treidler etwas voraus: Er stellte sich seiner Vergangenheit.
    Im Osten brach die Morgendämmerung heran, und vor dem Dunkel der Nacht hob sich die wellige Hochebene Schlesiens ab. Wie gestaltlose Wesen flogen anfangs verwaschene Konturen vorbei, um allmählich eine Landschaft in Grau und Braun zu formen. Irgendwann stieß eine Straße zur Bahnlinie. Ohne die Chance, jemals schneller zu sein als der Zug, hasteten vereinzelt Autos ihren eigenen Scheinwerferkegeln nach. Bald schälten sich am Horizont die ersten Häuser und Gebäude aus der einsamen Gegend.
    Treidler hätte nicht sagen können, wie lange er dasaß und durch die verschmierten Scheiben starrte. Erst als eine Stimme aus dem Lautsprecher krächzend den Kattowitzer Hauptbahnhof ankündigte, bemerkte er, dass es Zeit wurde, aufzubrechen.

17
    Montag, 17.   April
    Wie ein Keulenschlag riss ihn die Bodenschwelle aus dem Schlaf. Erschrocken fuhr Treidler hoch. Im nächsten Moment wurde ihm

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