Letzte Ausfahrt Neckartal
»In Anbetracht dieser Dienstvergehen habe ich Ihrem Vorgesetzten Herrn Kriminalrat Petersen geraten, eine Disziplinarmaßnahme auszusprechen.« Er sprach mit einem gefährlich rollenden bayrischen »R«.
»Was soll das heißen?«, fuhr Treidler ihn an.
»Suspendierung«, verkündete Paschl, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das Verfahren müsste Ihnen noch geläufig sein, Herr Hauptkommissar Treidler: Dienstwaffe und Ausweis bitte. Das gilt auch für dich, Carina. Tut mir leid.«
Treidler sah zu Petersen, der mit versteinerter Miene seinen Blick erwiderte. Im nächsten Moment senkte der Graue den Kopf. Er hatte sie tatsächlich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.
Treidler sprang auf. Er zog seine Waffe aus dem Holster, griff nach dem Dienstausweis und knallte beides auf den Schreibtisch. Damit drehte er sich um und stapfte ohne ein weiteres Wort zur Tür. Verdammte Idioten. Ihr werdet schon sehen, wohin das führt. Einen Augenblick später fiel das schwere Türblatt mit einer derartigen Wucht ins Schloss, dass jeder im selben Stockwerk spürte, wie die Wände erzitterten.
19
Ohne rechts oder links zu schauen, eilte Treidler den Flur entlang und die Treppe hinunter in Richtung Ausgang. Er spürte den Zorn, der in ihm hochkroch, und noch immer ballten sich seine Hände zu Fäusten. Wie konnte der Graue nur auf den Ratschlag dieses BKA -Idioten hören? Dass Winkler als sein Nachfolger keinerlei Skrupel gezeigt hätte, stand außer Frage. Treidler wusste, dass zukünftig einiges auf ihn zukommen würde. Aber momentan war Petersen noch Kommissariatsleiter. Ein Mann, der sich immer für seine Mitarbeiter eingesetzt hatte.
Treidler musste Dampf ablassen – am besten auf dem Schießstand. Ohne eigene Waffe blieb allerdings nur die Videoleinwand. Grußlos hastete er an zwei uniformierten Beamten vorbei, die schnell Platz machten, und wäre fast mit Sepp Dorfler, dem Leiter der Kriminaltechnik, zusammengestoßen.
»Morgen, Herr Treidler«, grüßte der ihn und blieb stehen. »Ich muss mit Ihnen …«
Treidler reagierte nicht und stürmte weiter auf die Glastür am Eingang zu.
»So warten Sie doch«, rief Dorfler ihm nach.
Treidler hielt inne und drehte sich um. »Was gibt’s?«
»Schlechte Laune?« Dorfler verzog seinen imposanten Schnauzbart. Er trug noch den Mantel und schien gerade erst angekommen zu sein.
»Könnte man so sagen.«
»Ich hab da was für Sie.«
»Erzählen Sie das Paschl. Er und Winkler sind für den Fall zuständig.« Damit wandte Treidler sich zum Gehen.
»Das hab ich schon«, erklärte Dorfler. »Aber es scheint die beiden nicht zu interessieren.«
Treidler machte auf dem Absatz kehrt. »Was haben Sie da gerade gesagt?«
»Es interessiert die beiden nicht.«
»Und was interessiert die beiden nicht?«
In diesem Moment kam Melchior um die Ecke und blieb neben Treidler stehen. Ihr verbissener Gesichtsausdruck sprach Bände. Vielleicht sollte sie sich ebenfalls auf der Videoleinwand abreagieren.
Dorfler nickte ihr zu. »Ihnen scheint die gleiche Laus über die Leber gelaufen zu sein wie Ihrem Kollegen.«
Melchior lächelte nur schief.
»Also, was haben Sie Paschl erzählt?« Es brodelte noch immer in Treidler. Für eine zwanglose Unterhaltung fehlte ihm im Augenblick die Geduld.
Sofort wurde Dorflers Gesichtsausdruck ernst. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen über die Talkspuren erzählte, die wir in dem alten Opel von der Rastanlage gefunden haben?«
Treidler nickte. »So ähnlich wie das Zeug, das Sie selbst verwenden. Nur eine andere Mischung oder so …«
»Genau.«
»Und was ist damit?«
Dorfler räusperte sich. »Gestern, in der Mittagspause, habe ich zufällig in einer Fachzeitschrift geblättert und einen interessanten Bericht gefunden, der von Wachsleichen handelte.«
»Wachsleichen?«
»Ja. So nennt man Leichen, die durch sehr seltene Umgebungsbedingungen nicht oder nicht vollständig verwesen. Trotz vieler Jahre unter der Erde sind solche Körper ziemlich gut erhalten. Meistens, weil der Ausschluss von Sauerstoff zum Abbrechen der Verwesung führte. Aber ich möchte Sie nicht mit den Details langweilen, nur so viel: Es war äußerst aufschlussreich.«
Treidler nickte. Auf die Details konnte er gerne verzichten, wenn Dorfler nur endlich zum Punkt kam.
Der kratzte sich an der Stirn. »Wo war ich?«
»Wachsleichen …«, sagte Melchior.
»Richtig. Danke. Also, der Bericht beschrieb die Arbeit von Forensikern bei einem Mehrfachmord im Kosovo. Sie wissen
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