Letzte Ausfahrt Neckartal
Selbstmörder vom Sprung von der Brücke in die Tiefe abhalten sollte, bog sie in die schmale Gasse Richtung Stadtgraben ab.
Wie ein Donnerschlag hallte ein weiterer Schuss über die Hochbrücke und schlug neben Treidler in den Gehweg. Er musste sich nicht umschauen. Er spürte den Verfolger hinter sich, höchstens zehn Meter entfernt. Lauf weiter! Treidler wollte die Beine noch rascher bewegen, noch schneller vorwärtssprinten. Er musste das Ende der Brücke erreichen, um endlich aus der Schusslinie zu kommen.
Doch der Mann gab keinen zweiten Schuss ab. Auch Treidlers Vorsprung verringerte sich nicht. Ohne rechts oder links zu schauen, überquerte er die Straße und erreichte die abschüssige Gasse entlang der alten Stadtmauer. Er rannte einfach weiter. Solange er in Bewegung blieb, standen seine Chancen gut. Nur mit viel Glück könnte ein Schütze in diesen verwinkelten Gassen eine flüchtende Person treffen.
Melchiors Vorsprung wuchs an. Weiter unten schien die Gasse vor der Fassade des Johanniterhotels zu enden. Treidler jedoch wusste, dass sich unterhalb einer Hausbrücke ein schmaler Durchgang nach links befand.
Melchior verschwand aus Treidlers Blickfeld.
Sekunden später erreichte er ebenfalls die Biegung, es ging wieder bergauf. Von Melchior war nichts mehr zu sehen. Dafür sah er ein Motorrad – eine dieser schlanken, lauten Maschinen, die für den Einsatz im Gelände gebaut waren. Der Fahrer stand auf den Fußrasten. Oben, in kaum hundert Meter Entfernung, querte das Motorrad die Gasse und verschwand hinter den Mauern des Kameralamtsgartens. Damit hatte er nichts gewonnen: Es war eine Sackgasse. Das Motorengeräusch schwoll schon wieder an. Gleich darauf kam die Geländemaschine zurück und blieb auf der Kreuzung stehen.
Der Fahrer trug einen schwarzen Enduro-Helm mit dem typischen, spitz zulaufenden Kinn und einem verspiegelten Visier. Über seiner verwaschenen Jeans trug er eine schwarze Motorradjacke mit hellen Streifen an den Ärmeln. Die Jacke glich der des blonden Schützen von der Kreuzung wie ein Ei dem anderen. Treidler war auf einen zweiten Verfolger gestoßen.
Im Helmvisier spiegelten sich die Häuserfassaden. Schnell presste sich Treidler an die nächste Hauswand und duckte sich. Hoffentlich hatte der Motorradfahrer ihn in der Senke nicht gesehen. Doch schon hielt der Fahrer in seiner Kopfbewegung inne, und Treidler erkannte im Visier die helle Farbe des Gemäuers, an dem er lehnte. Der Mann hatte ihn entdeckt. Er drückte den ersten Gang hinein und drehte den Gasgriff auf. Für einen kurzen Moment hob das Vorderrad ab, dann schoss die Maschine wie aus einem Katapult abgefeuert los. Das helle Knattern des hochtourigen Motors steigerte sich zu einem Kreischen. Doch der Fahrer machte keinerlei Anstalten, das Tempo zu verringern.
Wahrscheinlich würde er ihn einfach umfahren. Und bald konnte auch der blonde Schütze so weit herangekommen sein, dass sein nächster Schuss traf. Zurück zur Brücke konnte Treidler nicht. Er musste also eine Stelle, eine Nische, irgendetwas finden, wo er sich vor der herannahenden Gefahr in Sicherheit bringen konnte. Sonst würden ihn zwei Zentner Metall mit ungeheuerlicher Gewalt zu Boden reißen.
Bis zur nächsten Kreuzung erhob sich links von ihm die rückwärtige Fassade eines Gebäudes. Erst weiter oben gab es einige Fenster. Zu hoch, um heranzukommen. Und auf der rechten Seite ragte hinter dem verlassenen Hotelparkplatz die drei Meter hohe Einfassung des Kameralamtsgartens in den Himmel. Zu allem Übel bestand der Mauerabschluss aus scharfkantigen Dachziegeln. Unüberwindbar. Er saß in der Falle.
Das Motorrad hielt direkt auf ihn zu. In der Mauer entdeckte er ein Holztor, das zurückversetzt in einer Nische lag. Er musste diese Nische erreichen. Treidler sprintete los, auf den Parkplatz. Schon fürchtete er, dass seine Anstrengungen nicht ausreichen würden. Mannshoch und bedrohlich baute sich die Maschine vor ihm auf. Er sprang das letzte Stück.
Trotz der Entfernung gelang es ihm, sich auf den Füßen zu halten. Blitzschnell richtete er sich auf. Und da bemerkte er es: Die Nische war nicht tief genug. Sie bot kaum Platz für seinen Körper. Der Gestank von Öl und Gummi drang in seine Nase. Die Hitze des Motors verstärkte den Geruch weiter. Er hielt die Luft an, drückte sich ganz flach an das Holztor. Dann ein Luftzug, und die Maschine schoss vorbei. Er hatte es geschafft – vorerst.
Treidler blickte der Geländemaschine nach, die schnell
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