Letzte Ausfahrt Neckartal
langsamer wurde. Und da sah er ihn: Der blonde Schütze hatte inzwischen ebenfalls die Biegung mit der Hausbrücke passiert. Das Motorrad fuhr einen Bogen und bremste neben dem Blonden ganz ab. Nun würden sie zu zweit Jagd auf ihn machen.
Mit voller Wucht warf Treidler sich gegen das Holztor. Und noch einmal. Es ächzte, knirschte, und das Tor gab etwas nach, sprang jedoch nicht auf. Es war sinnlos, weiter darauf einzuschlagen.
Die Zeit, bis der Blonde auf dem Motorrad saß, durfte er nicht mit diesem verdammten Holztor vergeuden, das vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden war. Hinten bei der Kapellenkirche mit ihrem mächtigen achteckigen Turm endete die Gasse. Bis dahin waren es etwa zweihundert Meter. Erst auf dem Kapellenhof konnte er nach rechts oder links ausweichen, und das Motorrad musste seine Geschwindigkeit verringern.
Treidler rannte los. Noch fünfzig, vielleicht sechzig Meter fehlten bis dorthin. Rechter Hand passierte er die endlose Fassade des Konvikts, links erreichte er das Alte Gymnasium. Der Straßenbelag unter seinen Füße veränderte sich. Das Kopfsteinpflaster war im Schatten der hohen Gebäude noch feucht und rutschig. Wenn er jetzt stolperte, gab es kein Entkommen mehr.
Ein paar Fußgänger, parkende Autos, standen vor der Kirche. Melchior war nicht dabei. Treidler steigerte seine Geschwindigkeit. Seine Lungen drohten zu bersten. Trotzdem zwang er seine Beine weiter vorwärts. Er riss den Kopf herum. Die Maschine kam näher, befand sich jedoch weiter entfernt, als er befürchtet hatte. Der blonde Sozius hielt die Waffe im ausgestreckten Arm auf ihn gerichtet, doch aus dieser Distanz konnte er noch keinen gezielten Schuss abgeben.
»Treidler, schnell! Hierher!«
Melchior! Sie stand an der Ecke zum Kapellenhof und winkte ihm wild zu.
Die letzten Meter fielen ihm ungleich leichter. Melchior zog ihn aus dem Schussfeld. Das Geräusch des nahenden Motorrads schwoll weiter an. Dann ein Kreischen, ein Knall und das Geräusch von Metall, das über den Boden schleifte. Die Maschine schob sich in sein Sichtfeld. Sie schlitterte auf dem rutschigen Untergrund, drehte sich auf den Pflastersteinen um die eigene Achse und rutschte wie in Zeitlupe auf das schwarze Sandsteingemäuer der Kapellenkirche zu. Der Fahrer und sein blonder Sozius lagen einige Meter entfernt auf dem Boden.
Das war der richtige Augenblick, um die beiden endgültig abzuschütteln. Treidler ergriff Melchiors Arm und zog sie mit sich über den Kapellenhof. Ein halbes Dutzend Tauben stob gurrend auseinander. Sie quetschten sich zwischen den Fahrzeugen hindurch auf die andere Straßenseite und fanden sich nach wenigen Metern auf dem Wochenmarkt in der Fußgängerzone wieder. Ein guter Platz, um unentdeckt zu entkommen.
22
Erschöpft lehnte sich Treidler an eine Hauswand, stützte die Arme auf die Knie und atmete ein paarmal tief durch. Unter die Freude über den Triumph und die Erleichterung mischten sich rasch die ersten Sorgen. Wer zum Teufel waren die Motorradfahrer? Wer hatte die beiden auf Edgar angesetzt? Auf diese beiden Fragen brauchten sie so schnell wie möglich eine Antwort.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Melchior warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ja.« Treidler gab sich Mühe, seine Erregung zu verbergen. »Der Blonde wusste, dass die Mappe rot ist.«
»Er muss uns bereits in der Villa beobachtet haben.« Melchior sah nicht so aus, als ob sie gerade durch die halbe Stadt gerannt war. Nur einige Strähnen hatten sich aus dem Haarknoten am Hinterkopf gelöst und hingen ihr ins Gesicht.
»Richtig.« Treidlers Atem ging immer noch viel zu schnell. »Und dazu hat er entweder Edgar oder uns beschattet.«
»Uns?« Melchior schüttelte vehement den Kopf. »Das wäre mir sicher aufgefallen.«
»Ich schließe es ebenfalls aus.« Treidlers Pulsschlag verlangsamte sich allmählich. »Wie haben Sie eigentlich den Blonden vorhin umgenietet?«
»Eine Faust in die Niere. Und mit der Aktenmappe habe ich ihm die Hand mit der Pistole weggeschlagen.« Sie deutete beide Schläge an und machte dabei ein Gesicht wie ein Boxer.
Treidler konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Melchior zuckte mit den Schultern.
Das helle Geräusch des hochtourigen Motors jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er riss den Kopf herum.
Der schwarze Helm ragte über die Köpfe der Passanten. Im silbernen Visier spiegelte sich der hellblaue Himmel.
Das knatternde Geräusch des Motors schwoll an. Und dann sah er sie: Die
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