Letzte Bootsfahrt
Gretl?“ Die Mutter schien kurz zu überlegen, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Du bist doch der Schwaiger Michl! Dich haben wir hier ja schon ewig nicht mehr gesehen! Gut schaust aus!“
Es stellte sich heraus, dass der Schwaiger Michl nun ein Doktor Michael Schwaiger war, der in Wien lebte und dort als pensionierter Rechtsanwalt seinen Nachfolgern – zwei Söhnen – das Leben schwer machte. Geboren und zur Schule gegangen war er allerdings in Altaussee, zusammen mit Gasperlmaiers Mutter und der eben zu Grabe getragenen Friedl Voglreiter. „Wie geht’s dir denn so? Ist das dein Sohn?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte der Herr Doktor die Hand über den Tisch. „Gestatten, Schwaiger. Ein alter Freund Ihrer Mutter.“ Gasperlmaier ergriff die Hand, die die seine kraftvoll schüttelte. „Gasperlmaier“, murmelte er.
„Und, was macht er so, der Herr Sohn?“ Gasperlmaier fragte sich, warum der Doktor sich nicht direkt an ihn, sondern an seine Mutter wandte. „Er ist bei der Polizei!“, sagte die, sichtlich stolz. „Wie sein Vater!“ „So, so, bei der Polizei!“, schmunzelte der Herr Doktor. „Habt’s da viel zu tun, in Altaussee? Wahrscheinlich hauptsächlich Führerscheine einsammeln, von den Besoffenen, oder?“ Gasperlmaier meinte, aus den Worten des Herrn Doktor Geringschätzung herauszuhören, ersparte sich daher eine Antwort und wandte sich wieder seinem Seidel zu. Als er es leer auf den Tisch setzte, schnappte sich die Jasmin schon das leere Glas, um es gegen ein volles auszutauschen. „Eh nösch eens, Gasperlmaier?“, flötete sie. Der nickte nur. Die Jasmin war aus Ostdeutschland hierhergezogen, und trotz ihrer teils schwer verständlichen Aussprache war sie den Altausseern sehr ans Herz gewachsen, denn sie war eine Kellnerin ganz nach dem Geschmack der hiesigen Stammkunden. Kaum setzte man ein leeres Glas ab, wurde es gegen ein volles ausgetauscht, ohne dass man umständlich nach der Bedienung rufen oder gar längere Zeit ins leere Glas starren musste. Sie las, quasi, ihren Stammgästen jeden Wunsch vom leeren Glas ab.
Wenig später wurde das bei Beerdigungen übliche Rindfleisch mit Semmelkren gebracht, und Gasperlmaier und der Loisl leerten, wiederum unter den missbilligenden Blicken der Mutter, das zweite Seidel, um ein drittes vor sich hingestellt zu bekommen. Der Loisl, so stellte Gasperlmaier fest, musste sich die bösen Blicke gleich von zwei Seiten gefallen lassen. Neben ihm saß seine Frau, die Bruni, und am Kopfende des Tisches seine ältere Schwester, die Mathilde.
Noch ein wenig später, als die Damen bei Kaffee und Kuchen und die Herren bei einem Schnaps saßen, wurde die Stimmung etwas lockerer, wie es eben bei einem Leichenschmaus so passiert. Vereinzelt wurde an der Tafel sogar schon verstohlen gekichert. Selbst der Loisl war ein wenig aufgetaut und schmunzelte zu den Anekdoten, die über die Verstorbene erzählt wurden. „Weißt du’s noch?“, meinte der Loisl, dessen Zunge schon ein bisschen schwerfällig geworden war, „wie uns die Mama damals mit dem Besen nach ist? Wegen der Zwiebelbrote?“ „Immer um den Tisch herum!“, grinste Gasperlmaier, dessen Inneres vom Zirbenschnaps wohlig gewärmt wurde. „Aber erwischt hat sie uns nicht!“ Die beiden prosteten sich zu und kicherten. „Aber ich dafür!“, mischte sich mit strenger Stimme die Mutter ein. „Der Franzl hat dafür eine ganze Woche Geschirr abwaschen müssen. So was hab ich nicht durchgehen lassen!“ Die Mutter klopfte fest mit den Fingerknöcheln auf den Tisch, um ihre damalige Entschlossenheit zu unterstreichen. „Strafe muss sein!“
Der Loisl stand auf und musterte die Tischgesellschaft mit, wie es Gasperlmaier schien, argwöhnischen Blicken. „Ich muss einmal, bin gleich zurück.“ Nachdem ihm nun sein direktes Gegenüber abhandengekommen war, musste sich Gasperlmaier mit der Rolle des Zuhörers begnügen, während seine Mutter und der Herr Doktor einander kichernd Geschichten aus der gemeinsamen Schulzeit mit der Voglreiterin erzählten. Gasperlmaier fiel auf, dass der Doktor beim Aufheben der Kaffeetasse den kleinen Finger seltsam wegstreckte. Er trug einen recht teuer aussehenden Steireranzug, wahrscheinlich maßgeschneidert, mutmaßte Gasperlmaier. Er selbst steckte in einem ebensolchen, wenn auch von der Stange. Er hatte von seiner Mutter für die Beerdigung absolutes und unwiderrufliches Lederhosenverbot erteilt bekommen. „Wenn einer von deinen Stammtischbrüdern das
Weitere Kostenlose Bücher