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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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sich darüber im klaren sein, daß er ein Fremder auf dieser Erde ist, und das genaueste, eklatanteste Beispiel dafür ist in Europa der Galut-Jude. – Unter diesen Intellektuellen trifft man zahlreiche Leser, die meine Werke in allen möglichen Sprachen lesen, nur auf Ungarisch liest man sie nicht. Und in ihren Kreisen spüre ich zum ersten Mal, daß Jude-Sein interessant ist. – Interessante Gesichter; Elena, die charmante Gastgeberin – eine Geigenvirtuosin, die Rollas Franz-Liszt-Kammerorchester «anbetet»; Mitglieder der Chicagoer Symphoniker – die hauptsächlich auf Englisch geführte Unterhaltung: eine fragile Insel in dieser wundervollen freigeistigen Stadt Berlin, die leider immer schwerer mit wirtschaftlichen und sonstigen Problemen ringt.
    7 . April 2004  Gestern ist – im wahrsten Sinne des Wortes – nichts passiert. Spät aufgestanden, beide sind wir müde, verhängnisvoll müde. Ein Imbiß im Café Berlin, nachmittags ein Schläfchen. Heute morgen ein sexueller Traum, eine Orgie, jeder mit jedem, ich mit M. Ich hätte ihn gern auch in Wirklichkeit fortgesetzt, aber während des Frühstücks kam unser heutiges Treffen mit Ulla zur Sprache, und M.s sofortige Reaktion, die Eifersucht, hat mich stark ernüchtert.
    11 . April 2004  Morgens 5 Uhr. Das Datum macht mich ein wenig betroffen: Heute vor 59 Jahren bin ich in Buchenwald befreit worden. – Das Treffen mit U. verlief ohne Konflikte. Sie plant für den Herbst eine Lesereise, um den Roman – für den die Werbung bei Erscheinen völlig vernachlässigt worden war – quasi neu zu «starten». Eine obskure Idee, ich gab ihr keine endgültige Antwort. Vom Kempinski gingen wir hinüber ins Wiener Restaurant in der Kant-Straße, wo sich Durs Grünbein zu uns gesellte. Er brachte mir Bücher mit, wir sprachen über den Glauben. Ich fragte ihn, ob der Gedanke der Unsterblichkeit für ihn tatsächlich wichtig sei. Er sah mich ernst an und nickte wortlos. Es war bewegend. Später, schon ein wenig beschwipst, sagte er, ich hätte mit meiner Prosa schon die kommende Generation «angesprochen». Denkst du wirklich, daß es, wenn es dich nicht mehr gibt, auch dein Werk nicht mehr geben wird, hatte er zuvor gefragt. So ist es, antwortete ich. Seine Frau dächte ähnlich, sagte er; und flüchtig bekam ich Einblick in die Hölle einer Ehe. – Am nächsten Tag in der Philharmonie das Konzert von Barenboim und dem jungen Geiger Nikolaj Znaider, den wir bei ihm kennengelernt hatten, mit den gastierenden Chicagoer Symphonikern. Schönbergs Violinkonzert, davor Bach, danach Tschaikowsky: ein ekstatischer Abend. Vorgestern, am 9 ., mit der Karte von Elena, ebendort: die beiden Klavierkonzerte von Bach, Schönbergs
Fünf Orchesterstücke
, op. 31 , dann die VI . Symphonie von Tschaikowsky. Nicht enden wollende Ovationen für das Orchester, für Barenboim. Doch ihren Höhepunkt erreichte die Serie gestern abend, mit Schönbergs
Moses und Aron
in der Staatsoper. Ich sah das Stück zum ersten Mal, zum Glück wurde der Text eingeblendet; ich war vollkommen gefesselt und aufgewühlt. Danach irrten M. und ich lange im Labyrinth hinter der Bühne herum, bis wir Barenboims Zimmer fanden. Da saß er, nach einer erschütternd großen Leistung, hatte sich schon die Frackschleife vom Hals gerissen, breitete sich in einem Sessel aus und gähnte vor Erschöpfung. Er schien sich jedoch zu freuen, als wir ins Zimmer traten. Bei der Unterhaltung über das Stück schlug er vor, ich solle «etwas in dieser Art schreiben, ein Opernlibretto, aber nicht auf die Handlung», sondern auf den philosophischen Gehalt konzentriert, wie es Schönberg machte. Allem Anschein nach meinte er seinen Vorschlag ernst, und auf dem Heimweg fragte Magda im Taxi, wieso ich nicht ein Opernlibretto aus meiner geplanten Lot-Geschichte machen könnte. Das wäre zu überlegen. Später sprachen wir noch lange über das Stück, über Schönbergs Größe, die stets – auch heute noch – mit Argwohn betrachtet wird, und darüber, daß große Musik, genauer, eine große Oper, nur nach einem guten Textbuch zu machen ist. Auch auf Ligeti kamen wir, auf den verpfuschten Text seiner Oper, daß dieser geniale Mann aufgrund irgendeines merkwürdigen Mißverständnisses – aus Snobismus oder Anti-Snobismus – alles verpfuscht hat und daß dies nach meiner Meinung seine Krankheit ist. Im übrigen verstehe ich nicht, wie Schönbergs Größe bezweifelt werden kann, wenn jemand
Moses und Aron
kennt. Etwas

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