Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Publikum zum Gegenstand der Lächerlichkeit machte (ein interessanter Fall, den ich lange analysieren könnte, wenn ich dazu Lust hätte), am Vormittag desselben Tags die Journalistin, die fragte, ob ich mir vorstellen könne, daß die Israelis Konzentrationslager für die Araber vorbereiten, und der ich ebenfalls die Meinung sagte, usw. Langweilig. Nicht langweilig dagegen das Stadtbild, die wunderbaren Bauten Gaudís, und Vallcorba, seine Gastfreundschaft, seine zarte, rührende Persönlichkeit. Wir freuten uns, als wir unsere Berliner Wohnung betraten, und in der Nacht las ich mit müden, aber zufriedenen Augen die zwanzig Seiten durch, die von der
Letzten Einkehr
fertig sind.
21 . März 2004 Die Stillosigkeit dieses Tagebuchs hat keine gute Wirkung auf mich. Ich würde es abbrechen, doch wenn ich nicht etwas von den Geschehnissen aufzeichne, zerfällt mein unglaublich bewegtes jetziges Leben vollkommen. Kürze wäre nützlich. Also: noch zu Barcelona – das Meer, der Hafen, die Stadt, Las Ramblas. Es gelang uns nicht, ins Museum hineinzukommen. Am Abend reihten wir uns unter die eine Million zweihunderttausend Demonstranten ein. Mit polizeilicher Hilfe kamen wir leicht aus der Schlange heraus, aber nachdem wir die Absperrung passiert hatten, wurden wir in der reglosen Menge eingezwängt. Die Lawine erfaßte uns und begrub uns unter sich; minutenlang rangen wir nach Atem, während wir spürten, diese Menge macht mit uns, was sie will. Schließlich konnten wir uns befreien. (Das ganze Abenteuer haben wir András Gulyás, dem ungarischen Konsul in Barcelona, zu verdanken.) – Nach Berlin zurückgekehrt, war ich so müde, daß ich tagelang nicht arbeiten konnte. Magda ist nach Kassel abgereist und rief mit guten Nachrichten an: Ende Mai werden wir dort zusammen in ein Rehabilitationssanatorium gehen. – Vor drei Tagen bat mich Iris Radisch von der
Zeit
, die Ereignisse im Schriftstellerverband zu kommentieren. Ich versuchte, ihrer Bitte auszuweichen, aber keiner von denen, deren Telefonnummer ich ihr gab, wollte die Aufgabe übernehmen; so habe ich dann die Waffen gestreckt und hetze damit die kläffende Meute auf mich; noch dazu werde ich im April in Begleitung des deutschen Bundespräsidenten in Budapest eintreffen: Davor bereite ich mich auf die Wut-, Neid-und Haßexzesse vor, die mich dort empfangen werden. Heute mittag fahren wir nach Weimar, wo ich die Goethe-Medaille erhalte.
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. Ich bin todmüde, mein geschwollenes Bein ist – vom vielen Sitzen – einem Elefantenbein ähnlich geworden, ich wage es kaum anzuschauen. – Vor zwei oder drei Tagen Abendessen in der Israelischen Botschaft, Bekannte, einige interessante Leute. Vor zwei Tagen hatte ich Norman Manea zum Abendessen eingeladen; wir gingen hinüber zu Diekmann, unterhielten uns angenehm. Er ist rumänischer Jude, Ende der sechziger Jahre nach Amerika geflüchtet. Ich fragte ihn, wie er sich dort fühle. «Amerika ist ein gutes Hotel», sagte er. Das ist Berlin auch. Mir wurde wieder bewußt, wie sehr ich diese Stadt liebe. – Die letzten beiden Tage mit qualvoller Arbeit verbracht: Habe mich an den Bericht für die
Zeit
gemacht, per Telefon und Fax aus Budapest Material dazu gesammelt usw.
24 . März 2004 Weimar, Empfang der Goethe-Medaille. Wir fuhren mit dem Auto. Unmengen Menschen. Großer Kowed. Exaltierte Frauen. Avi Primors schöne Laudatio. Ein interessanter Mann, er gehört zum Typ jener großen, schlanken, dunkelblonden Juden mit wasserblauen Augen, die immer geistreich sind und einen speziellen Charme haben (die «nicht ohne» sind, wie man in Berlin sagt). In dem herrlichen Park, der Goethes Gartenhaus umgibt, sind sämtliche Gegenstände, sämtliche Büsten Graffiti zum Opfer gefallen. Im Park lungern Angehörige eines Fellachenvolkes herum, spielen mit Eisenkugeln irgendein billardähnliches Spiel, die mitgebrachten Thermoskannen stellen sie auf dem Rand des Goethedenkmals ab. Vor meinen müden Augen, in meinem müden Kopf verschwimmen die Gesichter und Namen vollständig. Gestern nach Berlin zurück, habe sechs Stunden geschlafen, am Abend den Artikel über den Schriftstellerverband beendet, für den ich in Budapest dann einen hohen Preis zahlen muß. – Diese Zeilen habe ich mitten in der Nacht geschrieben, so müde, daß ich vergaß, den Computer auszustellen. Heute morgen Liebe. Nun folgt ein chaotischer Tag, Korrespondenz, Frau Becker usw.
25 . März 2004 Es war tatsächlich ein chaotischer Tag, der folgte,
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