Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
für eine Perversität! Man sollte mir lieber Witzesammlungen schicken. – Gestern abend las Hermann Beil im Brecht-Theater bzw. auf dessen sogenannter Sommerbühne die deutsche Fassung der
Englischen Flagge
. Es tat gut, den Text in der fremden Sprache zu hören; einen solchen Text könnte ich heute nicht mehr schreiben. Übrigens erkannte ich während der Lesung das Original der mir schon immer verdächtig vorkommenden Anfangszeile des Buches von Esterházy wieder. «Wer lügt, denkt über die Wahrheit nach», lautet er in der
Englischen Flagge.
Diesen funkelnden Satz hat sich die Elster herausgepickt, mit gewissen Veränderungen. – Im übrigen meinte Ingrid, der Text sei vom Vortrag Beils zu sehr überspielt worden: Das empfand ich nicht, doch ich kann natürlich auch nicht beurteilen, was auf Deutsch pathetisch klingt und was nicht. Beil hat einen guten Thomas-Bernhard-Stil, aber sowohl Magda als auch Ingrid sagen, meine Texte hätten ein größeres Format als die Bernhards. Das nehme ich mit Freude und beschämt zur Kenntnis: Schließlich würde mir nicht im Traum einfallen zu leugnen, daß Bernhard der
spiritus rector
der
Englischen Flagge
wie auch von
Kaddisch
war.
2 . Mai 2004 Ich kämpfe um die Fortführung der
Letzten Einkehr
– vorläufig vergeblich. Gestern morgen ist Zoltán Hafner angekommen, diesmal, um mit mir das Interview-Buch zu Ende zu bringen. Ich ließ mich über die linksliberalen Juden aus, die Herren des aggressiven Boulevardblatts
Holmi
. Das war überflüssig. Abends Tankred Dorst und Ursula. Wir aßen im Dressler. Als Tankred mein Arbeitszimmer betrat, interessierte er sich sofort für das Fenster: «Gutes Selbstmordfenster», sagte er. Ich stimmte ihm zu, auch ich denke das jedesmal, wenn ich ans Fenster trete. Im Dressler erörterten wir die Situation des Suhrkamp Verlags und seiner Patronin, die weiteren Aussichten. Wir aßen Spargel mit Schinken und rauchten indische Zigaretten mit Nelkenaroma; am Schluß traten wir in die heimelige Dämmerung des Kurfürstendamms hinaus und warteten, bis das Taxi mit den Freunden davongefahren war. Magda und ich spazierten an den erleuchteten Schaufenstern vorbei nach Hause, dort setzten wir uns noch zwischen die schneeweiß und rot blühenden Sträucher im Atrium, den geschlossenen Garten unserer Wohnung, um uns zu unterhalten. Das Leben wäre schön, wenn mich nicht die Parkinson-Krankheit quälte, die spürbar in ein neues, gefährliches Stadium getreten ist.
6 . Mai 2004 Die
Geheimdatei
als Material für
Die letzte Einkehr
ausgedruckt: Ich habe eine große Möglichkeit in der Hand. – In den letzten Tagen gestaltet sich mein Leben so, daß ich mich tagsüber mit nichts als Blödsinn beschäftige – Korrespondenz, Telefonate, Erledigungen, Besuche – und nachts zwei bis drei Stunden an der
Letzten Einkehr
arbeite. Vorgestern in der Frühe verlor ich infolge eines fatalen Mißgeschicks – ich hatte mit dem Fuß den Stecker aus der Steckdose gerissen und so die Stromversorgung meines Computers unterbrochen – den in der Nacht geschriebenen und als hervorragend empfundenen Text. Versuchte den ganzen Tag, ihn wiederherzustellen, mobilisierte Fachleute – alles vergeblich. Gestern schrieb ich den Text dann neu, doch bis zum Schluß mit dem Gefühl, weit unter meiner vorherigen Leistung geblieben zu sein. Nicht sicher, ob es so ist. – Gestern Abendessen bei Irene Dische, viele Bekannte; während des Gesprächs machte ich die Bemerkung, die Gefahr stellten nicht die arabischen Terroristen, sondern wir selbst dar. Das gefiel N. so, daß er mich aufforderte, einen Artikel zu schreiben, der auf dieser Pointe basiert. Eigentlich schade, daß ich es nicht machen kann. Ich werde immer kränker. Montag fahren wir zu einer Rehabilitationsklinik nach Kassel. Ich nehme den Computer mit, habe große Pläne.
11 . Mai 2004 Kassel. Gestern angekommen, in schlechter Stimmung und verbittert. Im Zug erreichte uns ein Anruf aus Budapest: Magdas sogenannter Tumormarker ist nicht einwandfrei. Das besiegelte unsere schlechte Laune, die morgens, als wir uns zur Abreise fertig machten, ihren Anfang genommen hatte, meiner angeblichen «Negativität» wegen; mit Sicherheit ist es so, mit Sicherheit vergälle ich den Menschen um mich herum das Leben – auch mir selbst übrigens. Das ist keine Entschuldigung. – Seit gestern leben wir nach den Regeln der Ayurveda-Kur von gekochtem Gemüse und Ingwer-Tee. Gestern hat man mich untersucht und diagnostiziert,
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