Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Frankreichreise abgesagt haben. Nachdem ich eingekauft und meine Sachen erledigt hatte, kehrte ich beim Italiener ein, ins «Nobel-Restaurant», aß frisch gebratene Riesengarnelen, blickte aus dem Fenster auf die weißen Häuser der Meineke-Straße, genoß die Fürsorge und elegante Beflissenheit des Kellners und dachte daran, daß ich hier in Berlin sehr gut lebe. – Im übrigen geben die Kommentare zur Zerrüttung des Schriftstellerverbandes in der neuesten Nummer von
ÉS
einen Vorgeschmack von der wütenden Raserei, die mich in Budapest erwartet, wenn am Wochenende mein Artikel dazu erschienen sein wird. – Außerdem habe ich im Plattenladen in der Knesebeck-Straße Mahler- CD s gekauft; der Verkäufer erkannte mich und empfahl die Aufnahmen von Barbirolli; seit Tagen dürstet mich nach dem ersten Satz der 7 . Symphonie, und die Barbirolli-Aufnahme ist tatsächlich gut.
2 . April 2004 Gestern abend ist Magda zurückgekommen. Abendessen bei Diekmann. Als wir vom Flughafen nach Hause kamen, telefonierte sie sofort mit ihrer Schwiegertochter. Beim Abendessen sprach sie unentwegt über die Familie. Allmählich, ich weiß nicht warum, wurde ich nervös. Ich mag die Familie nicht – nicht die Personen, sondern die Familienbande. Sicher bin ich im Unrecht. Aber ich bin ohne Vater aufgewachsen, und mit meiner Mutter hatte ich nur Schwierigkeiten. Sie verstand kein einziges Wort von mir – wenn ich das so sagen darf. Der Clancharakter der Familie, die durch die Familie verursachten Psychosen, das «Blut», Nachfahren, Fortpflanzung: all das reizt mich. Warum eigentlich? Dekadenz, Egoismus, vielleicht bin ich ein schlechter Mensch. Und auch eifersüchtig. «Das Kind bin ich», wie Tankred Dorst gesagt hat.
Heute ein schlimmer, bedrückender Tag, bis Magda schließlich in Tränen ausbrach und Liebe und Mitleid meinen Groll wegfegten. Am Abend schauten wir uns zusammen einen Film an. Ich kann meine schreckliche Natur nicht ändern. Aber ich bin wenigstens voll Reue. Ich mag es nicht, mich selbst nicht zu mögen, obwohl es manchmal inspirierend ist. Wie hätte ich den Abschiedsbrief B.s in
Liquidation
schreiben können, wäre jener entsetzliche Abend nicht gewesen, an dem der Selbsthaß wie ein Sturm über mich hereinbrach? – Im übrigen ist in der heutigen (bzw. gestrigen, denn jetzt ist es sechs Uhr morgens)
Zeit
mein Artikel über den ungarischen Schriftstellerverband erschienen. Ich las ihn noch einmal, er ist ziemlich radikal. Ich glaube, es war dumm von mir, ihn zu schreiben. Andererseits wäre es mir – aus persönlichen und öffentlichen Gründen – auch nicht möglich gewesen, ihn nicht zu schreiben.
6 . April 2004 Vorgestern in der hiesigen Schwedischen Botschaft Wiedersehen mit Engdahl und Frau. Mit beiden lange Unterhaltung, mit der Frau beim Abendessen, mit Engdahl danach. Beide strahlen einen besonderen Charme aus – der Stammbaum der Frau führt väterlicherseits nach Esztergom zurück –, und jene natürliche Eleganz, die man besitzt, ohne davon zu wissen. Auf dem Heimweg erfuhren wir im Taxi von einem sympathischen Schriftsteller, halb griechischer, halb schwedischer Herkunft (er lebt in Stockholm und schreibt schwedisch), daß Engdahl früher als junger Mann einen Bart hatte und kompromißlos gegen die damals in Intellektuellenkreisen vorherrschenden marxistischen Anschauungen und Sympathien eingestellt war; ein herausragender Essayist, dessen Stil eine ganze Generation beeinflußt habe. Ein inhaltsreicher, schöner Abend, ich badete geradezu in dieser heute nur noch an privilegierten Orten zu findenden geistigen Atmosphäre, die man einst europäische Kultur nannte. – Gestern abend bei den Barenboims, obwohl ähnlich, trotzdem etwas anderes. Musik, Witze; merkwürdig, ich habe bis jetzt noch keinen Musiker getroffen, der nicht jede Menge Witze gekannt und sie schlecht wiedergegeben hätte. – Der Geigenvirtuose, der jeden Monat in einer anderen Stadt lebt. Seine Eltern waren aus Polen nach Palästina geflohen, von dort nach Dänemark. Er selbst ist in Dänemark geboren und mit 18 nach Wien gegangen, um Musik zu studieren. Er spricht mindestens fünf Sprachen. Doch er sagt, er habe keine Identität und leide darunter. Ich verstehe sein Problem, nichtsdestotrotz wähle ich – wenn auch spät – lieber die Rolle des identitätslos umherziehenden Juden als die des mit ruhigem Gewissen heimisch gewordenen Bürgers. Der letzte im Stammbaum zu sein ist auch nicht schlecht. Der Mensch sollte
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