Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Vergleichbares läßt sich in der modernen Musik kaum finden, und wer den üblichen Gemeinplatz wiederholt, daß seine Schüler – angeblich – «begabter waren als er», sollte sich bloß einmal den Rangunterschied zwischen
Moses und Aron
und
Lulu
vergegenwärtigen.
13 . April 2004 Gestern, Ostermontag, frühmorgens und auch tagsüber an der
Letzten Einkehr
geschrieben. Gestern abend bei Beckers – Irene, Niko und der junge russische Pianist. Abendessen, Magda hatte eine Sacher-Torte gemacht. Ich lese das Buch von Nyiszli: Es hat eine ziemlich unangenehme Wirkung auf mich. Ich bin dem KZ ent-und an den Nobelpreis gewöhnt: Ist das nicht das falsche Bewußtsein?
15 . April 2004 Gestern war unser achter Hochzeitstag. Am Vormittag mußte ich noch rasch einen Artikel für
ÉS
schreiben, weil mich diese mir seit Jahren vorgeworfene Koffer-Geschichte aufbringt. Danach gingen wir spazieren, setzen uns in der Ludwigkirch-Straße auf die Terrasse eines Cafés und genossen in Ruhe und glücklich die späte Nachmittagssonne. Abends ins Taxi, Essen im Adlon; ein schöner Tag.
Es gibt von uns selbst Aussagen, deren prophetischen Charakter wir erst später erkennen. Meinem Budapest-Essay zum Beispiel – den ich jetzt meines Artikels wegen zu lesen gezwungen war – ist klar der Wunsch wegzugehen zu entnehmen, der den Essay motiviert und mich schließlich hierher, nach Berlin, geführt hat.
16 . April 2004 Frühling in Berlin! Auf den sonnigen Plätzen der Kaffeehausterrassen könnte man keine Stecknadel fallen lassen. – Gestern Mittagessen in der französischen Botschaft. Monsieur Martin, ein unendlich sympathischer Diplomat. Er hatte einfach den Wunsch, mich kennenzulernen. Meine Magdeburger Rede hat ihn auf mich aufmerksam gemacht. Er stellte genaue Fragen, wartete mit wachen, lächelnden Augen auf die Antworten. Zum Schluß beging ich den Fauxpas, die Frau Kulturattaché – weil die Einladung von Mme. und M. Martin gekommen war –, für die Ehefrau des Botschafters zu halten: Die Dame nahm es mir nicht übel, aber sie errötete bis über die Ohren. – Wegen unzähligen überflüssigen Aufgaben vernachlässige ich das, wofür ich lebe: den Roman. In Anbetracht dessen, daß ich den Computer nicht mit nach Budapest nehmen kann, habe ich angefangen, die besten Sätze aus den
Trivialitäten
für die
Letzte Einkehr
herauszupicken. – Heute mittag mit Fest und seiner Frau; zuerst bei uns zum Sekt, dann bei Diekmann zum Mittagessen. Angenehme Stunden, Fest wird mir immer lieber. Kein Zweifel, ich werde mit der
Letzten Einkehr
zu seinem Verlag wechseln. Wir gingen enorm diplomatisch um den heißen Brei herum. – Nach dem Essen waren wir einkaufen: für mich drei Hosen aus reinem Leinen, ein leichtes helles Sakko, ein Hemd und einen schwarzen Sommerblouson. – Ich habe noch nicht über den «fatal langweiligen» (A.s Lieblingsausdruck) Abend berichtet, den wir mit einem als Autor verkleideten Literaturagenten in einem Pankower Restaurant verbrachten, in das er uns, wer weiß warum, zum Essen eingeladen hatte. Eine plumpe ostdeutsche Figur, provinziell, unbedeutend und hinterhältig.
29 . April 2004 Morgens halb sechs. Seit gestern abend aus Budapest zurück. Der einzige kohärente Eindruck, der von der hinter mir liegenden Woche geblieben ist, ist der von Lächerlichkeit und Müdigkeit. Wir kamen in der Präsidenten-Maschine (der des deutschen Bundespräsidenten) in Budapest an. Die zum Empfang aufgestellten roten Husaren, die berittenen Soldaten, die Ehrenwache, der Offizier, der mit seinen zwei Schwertern herumfuchtelte. Eine Dame aus der deutschen Delegation flüsterte mir ins Ohr: «Die möchte ich nicht in Aktion sehen.» Abendessen auf einem Schiff, ziemlich langes, angenehmes Gespräch mit Rau, am nächsten Tag mit Mádl, der mir seine Rede zur Eröffnung des Holocaust-Museums mitbrachte; es bilde sich ein gewisser Konsens heraus, und daran hätte angeblich auch ich großen Anteil, beziehungsweise mein Nobelpreis. Meine komische Karriere, die mich in absurde Abenteuer führt; ich kann mir selbst nur schwer folgen, hinke hinterher und sinne darüber nach beziehungsweise erinnere mich, was für eine schöne Sache es einmal gewesen ist, Schriftsteller zu sein. Es ist mein fester Entschluß, mit der Rolle Schluß zu machen, zu der mich meine neue Situation fortwährend zwingt.
1 . Mai 2004 Ich bin es maßlos leid, zur Institution geworden zu sein. Fast täglich bekomme ich Bücher über Auschwitz. Was
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