Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
sich die
Letzte
nicht weiterbewegt. Inzwischen waren wir für zwei Tage in Warschau. Bedrückende Impressionen; die Architektur der Stadt vom 31 . Stockwerk des Hotels; der dunstige Sonnenaufgang, die lückenhafte Bebauung der Gegend, das byzantinische Gebäude der sogenannten «Lomonossow-Universität», wo die Veranstaltungen stattfanden. Ansonsten herzlicher Empfang, lebhafte Reaktionen auf meine Werke – und ich weiß nicht, ob wirklich meine Bücher das Publikum erobert haben oder mein Nobelpreis. Eine nachlässig gekleidete ältere Frau, im Trenchcoat, ungeschminkt, mit einem Verband an der Wade, trug einen wundervollen Essay über mein Gesamtwerk vor; ein Mann mit einem guten Gesicht, Leiter oder Mitarbeiter des Dokumentationszentrums – ich habe es nicht genau verstanden –, bedankte sich fast mit Tränen in den Augen für den
Roman eines Schicksallosen
. Am letzten Tag gab der ungarische Botschafter uns zu Ehren ein Essen, auch der polnische Kulturminister war erschienen, und der Schweizer Botschafter kam «auf einen Sprung» herüber, damit ich ihm die von mir erstandenen Bücher signiere. Diese glorreiche Aufzählung ist eigentlich nichts anderes als ein knapper Bericht über meine unproduktiven Tage. Meine Kreativität schläft, ich kann mich nur schwer bewegen, es scheint, meine Zeit ist bemessen und der nächtliche Horizont nahe. Heute abend ein Essen mit Eva Koralnik und Pierre. Magda, die nach meiner Überzeugung mehr Aufmerksamkeit von mir verdiente. – Eine interessante Entwicklung: Meine
Detektivgeschichte
erwacht zu eigenständigem Leben, wurde sowohl ins Niederländische als ins Polnische übersetzt, und jetzt verlangt der holländische Verleger, daß ich ihm die Verlagsrechte überlasse. Peinlich, weil ich die literarische Qualität der Erzählung nicht beurteilen kann, zudem will ich meiner Wahl zwischen Suhrkamp und Rowohlt Verlag nicht vorgreifen; die Erlaubnis wäre in jeder Hinsicht eine übereilte Entscheidung. – Etwas anderes: Mein Entschluß, nicht nach Amerika zu gehen (auch wenn ich vorläufig noch gar nicht eingeladen bin), wird immer fester. Als beginne die europäische Amerikafeindlichkeit auch auf mich zu wirken; es wäre schlimm, wenn es so wäre. Offenbar hat diese Erscheinung reale Grundlagen, vor allem die amerikanische Kulturkolonisierung, die den europäischen Geist (zu prüfen wäre, ob es einen solchen gibt) unwiderruflich vernichtet, Geist und Leben uniformierend verflacht. Ich bin nicht glücklich, meine Lebensform ist kein Nährboden mehr für schöpferische Arbeit.
5 . Juni 2004 Gestern Abendessen mit dem charmanten Ehepaar Fest. Wir gingen ins nahe Thai-Restaurant, unterwegs sprachen Fest und ich miteinander, als sei er bereits mein Verleger. – Magdas Bemerkung zur
Detektivgeschichte
: Die hätte auch irgendein anderer schreiben können, hingegen habe das
Galeerentagebuch
(sie las es gerade) nur von mir geschrieben werden können. Sie hat recht, und damit ist das Schicksal der
Detektivgeschichte
besiegelt. – Drei Briefe geschrieben, einen davon, an den schwedischen Philologen, der meine Texte studiert, auf Deutsch. Über die amerikanische Ausgabe erneut Grauenhaftes erfahren: Ganze Absätze sind weggelassen, andere Textteile umgeschrieben.
6 . Juni 2004 Heute den ganzen Tag gefaulenzt. Im Fernsehen wurden die D-day-Feierlichkeiten aus Frankreich übertragen. Erstmals war ein deutscher Bundeskanzler zur Feier eingeladen. Wundervolle, erschütternde Bilder; ich mußte daran denken – und erzählte Magda –, wie ich diesen Tag erlebt hatte. Um zu den Feierlichkeiten zurückzukehren: In dem Ganzen war etwas, das allein im Westen möglich ist; die Gesichter, die Uniformen, die Lieder, das Arrangement – alles ein Aufleuchten westlichen Geistes, und das ist in unseren Tagen tröstlich, wo so wenig leuchtet. Das ist meine Welt, traurig dachte ich daran, daß ich mein Leben dennoch im Zeichen des östlichen Despotismus verlebt habe, der mich nichts angeht. – Am Abend mit Magda Spaziergang über den Kurfürstendamm, hinauf zum Café Berlin, wo wir von der Terrasse aus zuschauten, wie sich der Abend über Berlin senkte. – Laufen fällt mir schwer, Namen fallen mir überhaupt nicht mehr ein, mich quälen Rückenschmerzen: Ich bin bestürzt über das schreckliche Tempo des Verfalls. Ich fürchte, viel ist nicht mehr übrig.
13 . Juni 2004 In der letzten Woche ist so gut wie nichts passiert. Was im Hinblick auf den Roman, die
Letzte Einkehr,
ein großes
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