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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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westeuropäische Premiere, ein echtes Ereignis. Ich war mir mit Magda einig, daß dies unser letzter
Parsifal
war. Ich weiß nicht, woran es lag; die Musik hat ihre Wirkung auf mich verloren. Wenngleich wir vor kurzem den dritten Akt in der Philharmonie concertant hörten und damit zufrieden waren. Ich mag Wagner nicht mehr (Gott sei Dank). Bühnenbild und Regie wurden ausgepfiffen (genauer, ausgebuht). Ich verstehe auch nicht, warum der letzte Akt in New York, im Central Park, spielen mußte. Barenboim: «Immer noch besser als der Rote Platz.»
    21 . März 2005  Budapest. Mich interessiere nicht, was es bedeutet, Ungar zu sein, wird gesagt. Nein, sage ich, mich interessiert, was es bedeutet
zu sein
.
    22 . März 2005  Gestern Kieferoperation. Ich war den ganzen Vormittag nicht bei mir. Zwei blaue Pillen hatten mich völlig benebelt. M., die Liebe, umsorgte mich treu. Steckte mich ins Bett, pflegte mich. In der Nacht, nein, eher in der Morgendämmerung, stand ich auf und las die vorhandenen Seiten von
Dossier K.
. Ich beschloß, ab da, wo ich steckengeblieben bin – und das ist das Kapitel nach dem Militärdienst – nicht mehr linear, sondern von Frage zu Frage springend, in gebrochener Chronologie weiterzugehen. Wir werden sehen, ob es funktioniert. – Während des vielen Traras um den Film (dessen ich höchst überdrüssig bin) habe ich vergessen zu betonen, daß ich das Drehbuch in jenem Stadium des Schreibens verfaßt habe, das ich in der Zeit, als ich den
Roman eines Schicksallosen
schrieb, zu vermeiden versuchte. Das heißt, der Film enthält das sogenannte «Erlebnismaterial». Fast sechzig Jahre nach dem Geschehen bin ich zu jenem Grundmaterial zurückgekehrt, aus dem ich dreißig Jahre zuvor den Roman schuf – also bin ich sechzig Jahre nach dem Erlebten und dreißig Jahre nach dessen Umwandlung als Roman in den Zustand
vor
der Romanniederschrift zurückgeholpert.
    27 . März 2005  Der Computer streikt. Ich habe ihn repariert. Traue mich jetzt nicht, weiter darauf zu schreiben. – Es passierte in der Nacht. Ich habe dann solange auf den Tasten herumgedrückt, bis sich die Harmonie dieser Kunstwelt wiederhergestellt hatte. Im übrigen bedeutender Vorstoß bei
Dossier K.
Unregelmäßiges Leben: Ostern und so weiter. Ich schaue gerade aus meinem ehemaligen Arbeitszimmer auf die Berge gegenüber; wie anders wäre das, wenn man in Budapest auch leben könnte. Die Stadt ist heruntergekommen, das Land hat keine historische Rolle. Ein verlorenes Land, es verkommt. Wenn man sich die ungarische Literatur ansieht, spricht allerdings schon lange jedes Lied davon.
    30 . März 2005  Strapaziöses, blödes Leben. Budapest. Ich bin nicht einsam, sondern allein. Oft kommt mir Albinas Prophezeiung in den Sinn. Schade, daß mir das Rüstzeug für den Auto-Exit fehlt – ich weiß nichts über einen guten Tod; wie konnte ich nur so leichtsinnig sein? Eigentlich habe ich es auch über, immer in derselben Weise auf Dinge zu reagieren, auf die man eigentlich überhaupt nicht reagieren dürfte.
    3 . April 2005  Interessante, schöne Tage in Budapest. Musik – Barenboim, Boulez; mit ersterem Mahlers
Neunte
, danach Abendessen im Gundel. Inhaltsreiches, freundschaftliches Zusammensein mit Alexander Fest. – Die beiden Schriftstellertypen Thomas Manns: der Märtyrer und der Repräsentant. Und Märtyrer der Repräsentation zu sein? Auch das eine mögliche Variante, und gerade er, Th. M., wäre ein besonders geeigneter Repräsentant dessen. – Aufwerfen großer Fragen in
Dossier K.
Das Lamm, das die Schuld nicht auf sich nimmt: mein Verhältnis zum Katholizismus; mein Verhältnis zum Typ des Repräsentanten und des Märtyrers; Repräsentant der Repräsentation zu sein (der Literarische Hauptgewinn); mein Verhältnis zu mir selbst (ein unschuldiges Verhältnis oder manipuliere ich mich?) usw. Mein heutiges Verhältnis zu dem immer ferneren Alptraum namens Holocaust. Fragen: Bin ich – auch nach dem sog. Ruhm – derselbe geblieben, der ich bis dahin war? Hat ein «Schriftsteller» Pflichten? Hat er eine Heimat? Und so fort.
    7 . April 2005  Abends wieder in Berlin angekommen. Am Flughafen mit Magda eine «Wurscht» zum Abendbrot verspeist. Und dann erwarteten uns zu Hause Blumen und Essen vor der Tür, ein märchenhaftes Tischlein-deck-dich: von der lieben Christine gesandt. In den Fests haben wir, glaube ich, wirkliche Freunde gefunden. Danach die Post, die Briefe allesamt Mordversuche. Ich sage tapfer ab (dem

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