Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
geflogen. Meine Tage zerfallen. Aber mein Körper gehorcht mir noch hin und wieder. Ich bin unfähig abzunehmen. Das wird Probleme geben. Ein noch größeres Problem ist, daß ich mit
Dossier K.
nicht vorankomme. Ich schreibe umständlich und schlecht. «Volare, volare!» – wo bleibt die ursprüngliche Inspiration? Wie leicht sie verschwindet und mich im Stich läßt. – Ich stelle fest, daß ich weniger über das Alter klage. Ist das etwa so, weil ich inzwischen tatsächlich alt bin, mit sämtlichen absurden Attributen? – An meinen Parkinson denken, das sich dank der neuartigen Medikamente symptomatisch bedeutend gebessert hat, allerdings schlafe ich infolge der Nebenwirkung während des Sprechens ein und rede nach dem Aufwachen wirr. Wenn ich sterben muß, möge mich der Tod wenigstens nicht geisteskrank antreffen … Usw.
29 . Juni 2005 Gestern mit I. den ganzen Tag die deutsche Übersetzung von
Dossier K.
korrigiert. Schlechtes Vorgefühl. Erneut stelle ich mich der Öffentlichkeit; mein Gefühl ist, daß ich verliere. Eine hübsche Menge Publikum ist zu meiner Hinrichtung versammelt.
30 . Juni 2005 Krisenhafte Tage. Das Gefühl,
Dossier K.
endgültig verdorben zu haben, ließ heute in der Frühe etwas an Strenge nach. Magda lobte den Text am Telefon. Hafner (am Telefon) desgleichen, aber von einer anderen Seite. M. rief morgens um vier aus Chicago an, zum Glück war ich schon auf, durchblätterte
Dossier K.
Erträglich. Ich muß meine Möglichkeiten akzeptieren, das heißt meine Grenzen. Gestern abend András; wir aßen zusammen im Bourvil, als einzige Gäste. Angeblich gab es ein Fußballspiel, die Leute saßen vor ihren irrlichternden Fernsehgeräten zu Hause. Wir gingen über den von Platanen gesäumten Boulevard, den Kurfürstendamm. Ich bin von Freunden umgeben, von einer wunderbaren Frau, und ich lebe – zum ersten Mal in meinem Leben – an einem Ort, den ich liebe.
6 . Juli 2005 Ein ehemaliger Buchenwaldhäftling ist in seinem alten Sträflingsanzug zu der Gedenkfeier gekommen. Mehr ist darüber auch nicht zu sagen. Auch nach fast einem Jahrhundert hat man noch nicht begriffen, daß 12 Jahre lang ein Mann namens Adolf Hitler in Europa geherrscht und die Welt in Mörder und Ermordete bzw. zu Ermordende aufgeteilt hat. Und diese so aufgeteilte Welt
funktionierte
. Aber eine solche Vorstellung ist nicht vorhanden. Es gehört viel Wissen und viel Mut dazu, daß jemand das wirklich zu begreifen wagt. Ich bin es leid. Als ich neulich mit Fest darüber sprach, merkte ich, daß ich nichts mehr dazu zu sagen habe. Ich bin holocaustmüde, habe ich einmal zu irgendwem gesagt. Und das bin ich wirklich: Die Dinge gleiten mir aus den Händen, und ich verstehe nichts mehr. Zu der Holocaust-Veranstaltung gehe ich jedenfalls nicht.
7 . Juli 2005 Früher Morgen, am Schreibtisch. Der fast schon gewohnte Rhythmus: Um zwei Uhr lege ich mich hin, um vier wache ich auf, und um Punkt vier Uhr erscheint die Amsel auf der Eisenstange – die oberste Sprosse einer Außenleiter – gegenüber von meinem Fenster. Gestern gemeinsames Programm mit Magda: Wir lasen den schon fertigen Teil von
Dossier K.
, sie unten in der Wohnung, ich hier oben in meinem Turmzimmer. M. zufolge ist das Ganze von einem Mutterkomplex grundiert. Dubito. Aber möglich ist alles. Im übrigen ist das Material während der Lagerungszeit auskristallisiert. Ein harter, unerbittlicher Text. Jetzt hätte ich Lust zu etwas Geheimnisvollerem, etwas Sanfterem. Kann sein, ich schlage die
Letzte
auf.
Depressionen; alle Festungen erscheinen uneinnehmbar.
8 . Juli 2005 M.s Lesart, daß
K.
von meinem Mutterkomplex handele. Auch das wäre möglich. Ich habe mich zum letzten Mal, als ich
Kaddisch
schrieb, mit solchen Selbstanalysen beschäftigt; heute interessieren sie mich nicht mehr. Warum sollte mich mit 76 Jahren auch interessieren, was mich an der Nase herumgeführt hat bis dorthin, wo ich heute stehe (dem Tod gegenüber). Ich denke oft daran, daß ich kein Morphium, überhaupt nichts habe, wenn ich den Eindruck gewinne, daß ich es selbst schneller und schonender erledigen könnte als lange Krankheiten und der jämmerliche Verfall usw.
10 . Juli 2005 Wer mit mir lebt, ist allein. Ja, doch inzwischen habe ich das ewige schlechte Gewissen satt. Mitunter kommt mir noch zu Bewußtsein, daß ich Schriftsteller bin. Immer seltener. Ich trage keine Vorsorge für die Zukunft. Wer wird meinen Nachlaß pflegen? Oder will ich wirklich endgültig
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