Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
ließ man mich die Schuhe ausziehen, ob nicht etwa eine Waffe darin versteckt sei. Ein großes Sioux-Indianerspiel. – Das
Dossier
kommt voran. – Ich bin alt geworden und empfindlich. Mir schmerzen die Seele und der Rücken.
1 . Dezember 2005 Winternacht. Ängste. Wie lange ziehe ich es schließlich noch durch? Auf welche Weise soll ich mich vor dem Tod fürchten? Wie vor dem Zahnziehen? Daß es nicht weh tun möge? Ich versitze die Tage vor dem Computer. Arbeite am
Dossier
… Meine Haltung ist greisenhaft. Ich gehe auch nicht auf die Straße. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ins vorgerückte Alter gekommen [8] .
11 . Dezember 2005 Vorgestern habe ich
Dossier K.
abgeschlossen. Am Schluß eine meisterhafte Wendung. – Und was spielen wir nun, fragt der ewige Schuljunge in mir.
Die letzte Einkehr
müßte geschrieben werden, allerdings in dem Wissen, daß sie wegen M.s Empfindlichkeit nicht veröffentlicht werden kann. Das bodennahe Fliegen hat leider seine Risiken …
12 . Dezember 2005 Fast unvorstellbar, daß
Dossier K.
fertig ist. Magdas Anmerkungen zu ihrer eigenen Rolle; ich änderte, sie war dafür dankbar, und ich bin glücklich. Abends ein Essen mit Professor Meier, Norman Manea und seiner Frau im Grunewald. An den Tagen vorher Gallenbeschwerden. Ich stelle fest, daß ich mich neuerdings immer dann ans Tagebuch setze, wenn ich keine, aber auch gar keine Lust dazu habe. So ist nichts von den schönen Tagen hineingekommen, die wir mit den Esterházys verbracht haben – und vieles andere mehr, an das ich mich schon nicht mehr erinnere. O weh, ich muß sterben …
18 . Dezember 2005 Letzten Endes ist
Dossier K.
gut gelungen. Ich könnte sagen, es ist eine meiner ernstesten Arbeiten. Was heißt ernst? «Ich bin ernst geboren, wie andere syphilitisch», sagt Molloy. Ich tue besser daran, einfach zu sagen: Letzten Endes ist mir dieses Buch lieb geworden und ich habe meine Freude daran. Jetzt ist es morgens, ein Wintermorgen, mit ein wenig Schnee auf den Dächern von Berlin. Ich habe ein Buch beendet, die Götter packen: Sie wollen mich doch nicht etwa verlassen?
19 . Dezember 2005 Morgens um vier höre ich Furtwänglers
Tristan
, mit dem Kommentar Wapnewskis. Ich tappe unschlüssig herum, was ich nach
Dossier K.
beginnen soll –
das ewige Problem des leergeschriebenen Schriftstellers
[9] . Inzwischen bin ich in einer schrecklichen körperlichen Verfassung, zehn Kilo Übergewicht, Bewegungsmangel, geschwollene Beine und so weiter. Nebenbei gesagt ist der
Tristan
bedrückend schön, doch ungeachtet dessen, daß man die Szene alles andere als humoristisch nennen kann, ist ihr dennoch anzumerken, daß Wagner keinen Humor besaß. Schön, das ist keine große Erkenntnis, aber mit dem Humor ist es wie mit der Handlung:
man soll ihn haben
[10] .
31 . Dezember 2005 Madeira. Der letzte Tag des Jahres. Wir sind vor dem scheußlichen Winter des Kontinents auf die blühende Insel im Atlantischen Ozean geflüchtet. Meine unmögliche Situation nach
Dossier K.
: Stellt sich noch Arbeitslust ein, oder muß ich das schmähliche Leben eines alten Mannes führen und untätig dahinleben, bis mich der Teufel holt … Ich lese
Das Land Ulro
, dieses großartige Buch von Miłosz; kein «Thema» ist heute interessanter für mich als der emigrierte osteuropäische Intellektuelle …
2006
1 . Januar 2006 Ich fange das neue Jahr auf Madeira an. Um Mitternacht hielten wir auf dem Balkon der Belagerung des Feuerwerks stand. Von den Hügeln am Ufer und den im funkelnden Wasser der Bucht liegenden Schiffen, von überall krachten die Böller, der Himmel war hell und voller Zeichen. Wir küßten uns und wünschten uns ein frohes neues Jahr … – Am frühen Morgen habe ich mich für die Fortsetzung der
Letzten Einkehr
entschieden; es wird noch radikaler, als ich es begonnen habe; es wird ein Todestagebuch.
Dossier K.
hat mir den Weg geöffnet – welch ein Glück dieses Buch ist! Es befreit mich von jeder Last, macht jede Erklärung überflüssig.
4 . Januar 2006 Madeira. Mit den Plänen kehrt auch die Schlaflosigkeit zurück. – Vor der Madeira-Reise noch ein Anruf von Kállai; wie zur Zeit des
Romans eines Schicksallosen
war er auch jetzt – nach Magda – der erste Leser des
Dossiers
. Seine Begeisterung tat mir sehr gut.
13 . Januar 2006
Dossier K.
ist fertig redigiert. Ob ich noch jemals ein Buch schreiben werde? Auf jeden Fall stelle ich noch
Die letzte Einkehr
zusammen. Kann sein, daß ich sie
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