Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
zurückgekehrt, todmüde – verlorene Reisende, Flughafennomaden. Davor Paris, Interviews, bei denen ich mich selbst wiederhole, Mittagessen mit dem Ministerpräsidenten im Hôtel Matignon, Besuch beim Kulturminister in einem anderen Palais. In Toulouse bekam ich sowohl vom Bürgermeister als auch vom Außenminister irgendwelche Plaketten – zwei neue Briefbeschwerer. Ich weiß nicht, warum sie mich mit einer so vorzüglichen Liebenswürdigkeit behandelten. Angeblich haben sie meine Bücher gelesen; ich weiß nicht. Ein echtes Erlebnis war hingegen, die Bekanntschaft von Jean Quentin zu machen, diesem großartigen Schauspieler aus der
Kaddisch
-Inszenierung. Am nächsten Tag im Theater «Beantwortung von Fragen aus dem Publikum»; es lief unglücklich an, eine Dame stellte mir ungemein dumme Fragen, mit einer Weitschweifigkeit, daß das Publikum aufstöhnte. Schließlich brachte ich sie zum Lachen, und sie gab sich zufrieden. Am Ende
standing ovation
. Es war schön, sinnlos und anstrengend. Grundbaß dieser Tage die dänischen Karikaturen, Europas winselnde Unterwürfigkeit, ein Vorgefühl des Endes, das bei mir inzwischen dauerhaft Einzug gehalten hat. – Die Umrisse eines neuen «Holocaust», wie sie sich langsam vom dunklen Hintergrund abheben. Das reimt sich mit meiner allgemeinen Stimmung: Alter, Kreativverlust. – Jeden Tag denke ich an den Tod. Ich denke jeden Tag an den Tod. An den Tod denke ich jeden Tag.
24 . Februar 2006 In Paris hat man einen unglücklichen Jungen, dessen einziges Verbrechen es war, Jude zu sein, drei Wochen lang gequält und dann auf die Eisenbahnschienen geworfen. Die Presse merkt an, es sei seit der deutschen Besatzung erstmalig vorgekommen, daß in Frankreich jemand allein wegen seines Judentums umgebracht wurde … Mir kommt die Gehässigkeit in den Sinn, welche die sogenannten linken Intellektuellen in Ungarn beim Erscheinen von
Ich – ein anderer
bekundeten; ihr Hauptargument war, ich zeichnete ein apokalyptisches, aufs Chaos gerichtetes Weltbild. Also, was das betrifft, war ich um einiges «milder» als die seither eingetretene Wirklichkeit.
27 . Februar 2006 Allein. M. in Budapest. Sohn und Schwiegertochter. Die «Kälte» zwischen ihnen, wie M. sagt. Familie, Kinderkriegen, Fortpflanzung gehören zu den dümmsten und banalsten Betätigungen des Menschen. – Ich arbeite an der deutschen Übersetzung des
Dossiers
. Schrecklich. Und wieder und wieder wird mir bewußt, daß ich 77 Jahre alt bin …
1 . März 2006 Nach einem Tag Arbeit mit Ingrid ist die deutsche Fassung des
Dossiers
gestern fertig geworden. Abends gegen sieben kam ich in die Meineke-Straße zurück; ich fühlte mich wie eine ausgequetschte Zitrone. – Bestürzt mußte ich feststellen, daß ich gräßlich zugenommen habe: Ich wiege 95 Kilo. Feste Gelübde, die ich nicht halten werde. – Die rumänische Sache. Wie konnte ich nur so blöd sein? Etwas aber erschließt sie trotzdem: den Sprachgebrauch, den ganz besonderen Haß, der den osteuropäischen Juden von der rumänischen Obrigkeit entgegengebracht wird. Gemeine Menschen, ein ganz gemeines Land, die bloße Berührung ist, als würden mich Kröten aus dem Sumpf anspringen.
4 . März 2006 Es ist vorstellbar, daß ich mit
Dossier K.
alles verderbe. Ich schütte mein rätselhaftes Leben wie einen Korb faules Obst auf dem Tisch aus, stelle es öffentlich zur Schau, und die Leute können nach Belieben darin auswählen. Das Leben und die daraus erwachsene Literatur lösen vielleicht auf einmal einen «Aha-Effekt» bei ihnen aus, und sie wenden sich plötzlich von meinen Büchern ab, weil ich deren Geheimnisse ja selbst aufgezeigt – also sowohl das Werk wie das Leben in einen ausgeleerten Korb verwandelt habe.
9 .– 18 . März 2006 Auf den Ohren, in den Ohren Bruckners dunkle, feierliche Trompeten. Gestern in Stuttgart bei Dr. Arnold, der meinen Parkinson in Ordnung hält. Durcheinander, Unorganisiertheit, Steuerpapiere, Rechnungen und Kritiken … ich könnte den ganzen Tag nur meine unübersichtlichen Angelegenheiten verwalten. Lächerlich. – Mittwoch stiegen wir in Fiumicino aus dem Flugzeug aus, ein Auto erwartete uns, dann hinauf nach Cassino, hier empfing uns – nach etwa eineinhalbstündiger Autofahrt – ein schlechtes Hotel. Interviews ( RAI usw.), am nächsten Vormittag Besuch in der Abtei Montecassino, und am Abend bekam ich – im Verlauf einer zweitklassigen Veranstaltung – einen Literaturpreis, Abendessen in einem
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