Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Von Kafka geträumt. Ich sprach am Telefon mit ihm. Wir verabredeten einen Termin, und er kam auch. Sein Gesicht glich dem auf den bekannten Fotografien nicht. Er war eher grau, mit starkem Bart. Ob es nicht mein Vater gewesen sei, fragte M., als ich ihr davon erzählte. Ein interessanter Gedanke, ich kann ihn nicht zu Ende denken. Vielleicht der starke Bart, das levantinische Gesicht … Doch dann bleibt die Frage: Kafka in der Rolle meines Vaters, oder mein Vater in der Rolle Kafkas? Er war nett zu mir, es entstand Zuneigung. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten. Es war ein großer, tröstlicher Traum, ein blasses Spiegelbild meiner alten großen Träume.
21 . August 2005 Ein paar schnelle Notizen in Gstaad, morgens um halb vier. Zwar bin ich noch nicht am Ende angekommen, aber es gibt einen entscheidenden Fortschritt bei
Dossier K.
. Gestern schrieb ich in einem großen Anlauf und mit Lust den Passus, in dem es um die «Liberalen» geht. Zuvor die Familie hier: Der Kleine wurde mir schließlich sehr lieb. – Gyula Hernádi ist gestorben. Nekrolog: Die Luft ist ein bißchen reiner geworden.
23 . August 2005 Abends, 10 Uhr 19 . Berlin. Ich bin fast am Ende von
Dossier K.
Am Donnerstag muß ich mit der Korrektur der Übersetzung beginnen. Der Wahnsinn ist wieder ausgebrochen, die Eifersucht. Interessant, daß ich mich aufregen und ins Reich des Wahnsinns hineinziehen lasse. Eigentlich … ich weiß auch nicht. Ich muß an Pilinszky denken, an sein Gesicht, seine Intonation, als er sagte: «Ich lebe wie ein Hund» – das Wort Hund mit unglaublicher Verachtung ausspuckend. – Ich muß mir jemand suchen, der für meine Texte sorgen wird. Ich muß mir jemand suchen, dem ich beispielsweise einmal dieses Trivialtagebuch anvertrauen kann.
26 . August 2005
Dossier K.
steht vor dem Abschluß. Gestern mit Magda und der charmanten Christine Fest im Mercedes-Autosalon. Wir wollen uns ein Auto kaufen. M.s Geburtstag feierten wir abends in Dahlem, im Restaurant Roseneck. Am Tag davor, als ich auf der Terrasse des Hotels Mondial in der matten Sonne saß, hat mich das Gefühl ergriffen, daß mein Leben ein großes Abenteuer ist. Der grüne Tunnel der Platanen am Kurfürstendamm. Als sei es immer so gewesen: Irgendwo auf der Welt, in einer unbekannten Stadt, sitze ich auf der Terrasse eines Kaffeehauses und rauche eine Zigarette, um mich herum der schon abflauende Spätnachmittagsverkehr der Metropole. Der Zauber der Fremdheit. In letzter Zeit liebe ich mein Leben, und ich bedaure, daß es schon seinem Ende entgegengeht.
28 . August 2005 Gestern abend Beethovens Dritte in der Philharmonie, mir rollten Tränen über die Wangen … Viele liebe Bekannte. Berlin hat mich aufgenommen …
7 . September 2005 [Budapest] Bankrotterklärung. Ich schaffe es nicht, das
Dossier
zum Abschluß zu bringen. Am vergangenen Freitag hatte ich es schon in der Hand, aber ich mußte nach Budapest reisen, zur Taufzeremonie der Kleinen. Man ist entweder Schriftsteller oder Großvater. Es stimmt nicht, daß beides zusammen realisierbar ist. Ich empfinde eine gewisse Schadenfreude mir selbst gegenüber. Ich lebe wie ein Schwein. Ich nehme zu und schaue nicht aus dem Stall hinaus. Nebenher nahm ich
Ich – ein anderer
in die Hand. Ich war einmal ein guter Schriftsteller. Meine Bücher sind wie lauter feine Geheimnisse. – Der alte Professor G. bei der Taufe. Rings um den Tisch grassierten Grippebakterien, die Vorhut des Todes.
12 . September 2005 Die besagten Bakterien; der erste Herbstschnupfen – es war unvermeidlich, daß ich ihn bekommen würde. Das Ereignis der Nacht: Ich las
Dossier K
. durch und war überrascht, wie ungewöhnlich es ist. Ein paar abschließende Absätze liegen noch vor mir.
15 . September 2005 Nachts um zwei aus einem beklemmenden Traum erwacht. Wir wohnten in einer Art Hotel. Oder eher in einem Gefängnis? Und mit wem? Mit Magda? Ich weiß es nicht. Es ging um irgendwelche Zeichnungen pornographischen Inhalts, die ich in dem Kellergefängnis des Gebäudes an die Wände gezeichnet hatte, als ich vor langer langer Zeit einmal dort eingesperrt war. Zu meinem großen Erstaunen hatte man die Zeichnungen entdeckt. «Sie haben es herausgekriegt», dachte ich, und in diesem Gedanken mischte sich mein Entsetzen mit der Bewunderung für die Ermittler. Ich versuchte aufzustehen (?) und zusammenzupacken. Magda erwachte jedoch. Ich stammelte irgendeine banale Ausrede. Dann bin ich aufgewacht. Der
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