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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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und spurlos verschwinden? Der Gedanke interessiert mich nicht wirklich. Zu fürchten ist der Verfall; es wird niemand dasein, der mir die letzte Erleichterung (Morphium?) verabreicht. Möglicherweise werde ich auch keine Pflege haben, wenn ich krank werde. Wer liebt mich? (Außer mir selbst?) Ich glaube, niemand. Ich bin auch nicht liebenswert. Letzten Endes will ich auch nicht, daß man mich liebt, ich begnüge mich auch mit Bewunderung.
    13 . Juli 2005  Die heißen Tage halten an. Brütende Hitze in Berlin. Vielerlei Unangenehmes. Noch immer habe ich mich nicht an die Familie gewöhnen können. Gerade sprach ich mit Tankred, er klagte daüber, daß er ein drittes Enkelkind bekomme. Die Fortpflanzung, sagte er, interessiere ihn nicht. Als hätte ich meine eigenen Worte gehört. Ich stecke mit
Dossier K.
fest. An dem Punkt sollte sich der Text öffnen, wie eine Zaubertür, die auf einmal den Blick auf den weiten Horizont freigibt, den strahlenden Himmel, die grüne Landschaft, die untergehende Sonne. Aber diese Sonne scheint noch und überzieht das Bild mit rotglühendem Licht. – Magda fliegt heute nach Budapest, mit einem Sack voller Kinderkleider, Spielzeug usw. Ich folge übermorgen. Auch meinen Koffer hat sie zur Hälfte mit albernem Firlefanz vollgestopft. Ich fürchte mich vor Budapest, ich fürchte mich vor den Leuten, und daran schließen sich die Schweizer Ferien an, in die uns die Familie für eine ganze Woche nachkommen wird.
    15 . Juli 2005  Das Schriftsteller-Segel ist gestrichen. Noch eine Inspiration für
Dossier K
. täte not. Ich gebe immer vor, Schriftsteller zu sein. Zum wievielten Mal muß ich der Tatsache ins Auge sehen, daß es keine Sprache gibt, die mich bewahrt und erhält. Mich plagt eine Krankheit (Parkinson), meine Jahre laufen ab, mein Körper ist deformiert (Altersspeck, vorstehender fetter Bauch), wahrscheinlich muß ich bald sterben. Ich hinterlasse nichts. Ich wandere von Wohnung zu Wohnung, heute muß ich noch nach Budapest abreisen, in die Stadt meiner Qualen. Wenn ich daran denke, was ich alles machen müßte, sehe ich ein geballtes Chaos vor mir und wage keinen Schritt zu tun; es lähmt mich.
    19 . Juli 2005  Wie Paul Valéry bin ich jeden Tag schon im Morgengrauen auf. Aber ich bin nicht jeden Morgen so konzentriert wie Paul Valéry. Ich muß mir überlegen, was ich schreibe, anders als Paul Valéry, dessen sich schon bei Tagesanbruch wie sensible Blumen entfaltende Gedanken György Somlyó zu so ekstatischen Äußerungen hinrissen. Überhaupt inspiriert mich die Frage, was später mit meinem sogenannten Nachlaß geschieht, zu sehr bedenklichen Analysen. Wie wichtig mir diese Bedenken sind, müßte den Grad meiner Selbstachtung zeigen. Zeigt es ihn?
    21 . Juli 2005  Und der verlassene Ort, wo man die zum Tode Verurteilten hinrichtet, ist für ihn der Mittelpunkt der Welt …
    26 . Juli 2005  Morgen endlich zurück nach Berlin. Ich bin ein paar Seiten weitergekommen – eigentlich sogar ziemlich viele. Starke sommerliche Hitze. Alle sind lieb zu mir, als begleiteten sie mich zum Richtplatz. Wahnsinnsereignisse in der Welt; Terroristen sprengen sich in der U-Bahn in die Luft.
    27 . Juli 2005  Die rote Pracht des Himmels vor Sonnenaufgang. Ein ungarisches Buch, das sich mit mir und meinen Arbeiten beschäftigt (Sára Molnár,
Ugyanegy téma variációi
[Variationen eines Themas]) und einmal nicht demütigend ist. Mein Leben, diese langsam abkühlende Rakete, dieses verblassende Licht …
    2 . August 2005  Ich habe zurückgeblättert und bin bestürzt: Ich schreibe an der 100 . Seite von
Dossier K
., obwohl ich schon vor einem halben Jahr fast an dieser Stelle war. Im übrigen sind wir vorgestern in Gstaad angekommen, wie alte Stammgäste, die jedes Jahr zurückfinden. Sára Molnárs Buch über meine Arbeiten: Zum ersten Mal in meinem Leben lese ich ein Buch, das wirklich von mir bzw. meinen Arbeiten handelt. Ein gutes Gefühl. Ich schlage mich mit einer Augenentzündung herum. Gestern abend der Schweizer Nationalfeiertag, Cocktailparty auf dem Rasen, wo eine Schrammelkapelle spielte und ein Pony und vier Ziegen herumstanden. Wieder war peinlich, daß ich außer Deutsch keine Fremdsprache spreche. Ein etwas trauriger Abend mit Feuerwerk. Die Traurigkeit ergab sich aus dem üblichen Konflikt: Ich will langweiligerweise meiner Schriftsteller-Manie frönen, während es die arme M. nach Zerstreuung, nach einem Partner verlangt. Meine Augen schmerzen.
    5 . August 2005

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