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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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zu müssen, lese ich etwas, und zwar Kehlmanns wissenschaftliches Abenteuerbuch, von dem bis jetzt sechshunderttausend Exemplare verkauft worden sind. Das verstehe ich auch; es ist eine absolute Profi-Arbeit. Ich lese wie ein Kind, ein kleiner Junge. Ich glaube, ich habe völlig den Boden unter den Füßen verloren, und ich bin schon zu alt und habe keine Zeit, um Ursachenforschung zu betreiben, obwohl das früher ein interessantes Experiment für mich war. Mir ist klargeworden, daß mein Leben ohne M. keinen Sinn, ja, keine Realität besitzt, und sie ist gegenwärtig in Amerika …
    28 . November 2006  Daß ich nichts beenden kann … Ich kann weder das Schreiben beenden, noch kann ich mein Leben beenden … – Gestern, nein: es war schon heute, in der Nacht, kurzum: heute nacht habe ich wieder mit der Hand zu schreiben angefangen; ich öffnete das bunte Büchlein, das ich 2001 geschlossen hatte, und habe es fortgeführt. Was für ein schönes Büchlein! Ich bekam es von Magda. – Nach der Szomory-Lektüre in der Nacht kriegte ich Lust zu einer Szomory-Biographie, einem Szomory-Roman. Wäre das denn so unmöglich? Ja, weil ich zu faul – und ungeeignet – bin zum Materialsammeln und Forschen, das für eine solche Biographie nötig ist.
    5 . Dezember 2006  Kati K. stirbt. Vier Jahre lang hat sie gegen die Metastasen gekämpft (Leber-und Knochenkrebs). Jetzt liegt sie auf dem Sterbebett, und sie nimmt das Telefon ab; jeder kann sich von ihr verabschieden, ich habe es auch getan – wenige Erlebnisse in meinem Leben waren so erschütternd. Magda schluchzte … bestürzt sehe ich wieder, daß sie mit dem Gedanken an die tödliche Krankheit lebt, und ich kann nichts tun.
    «Und wenn Lot Ruth liebt und sich selbst die Schuld am Verderben der Frau (ihrem Erstarren zur Salzsäule) gibt? Und erkennt, daß er die Frau mit seiner Schuldlosigkeit in die Unmoral getrieben hat?»
    16 . Dezember 2006  Täglicher Bericht in dem handschriftlich geführten Büchlein. Meine Existenz wird immer seltsamer, von dem Land, in dessen Sprache ich schreibe, habe ich mich fast völlig «gelöst», hier in Berlin dagegen feiert man mich, veranstaltet Abendessen zu meinen Ehren und plaziert den Hauptsponsor neben mich usf. Letzten Endes bin ich, wenn man alles in Betracht zieht, ein Emigrant geworden, und es wäre müßig, die Sache zu beschönigen.
    29 . Dezember 2006  Zu meiner Linken das Meer. Wieder auf Madeira. Warmer Sonnenschein. Gestern die Heimsuchung des Londoner Flughafens; ich möchte den Namen Heathrow in der kurzen Zeit, die ich noch vor mir habe, nicht mal mehr hören. Ich bin voller Zweifel, die
Letzte
betreffend. Ob eine erneute Selbststilisierung möglich ist. Ob es möglich ist, Magdas Einverständnis zur Herausgabe des Buches zu erlangen – obwohl es nichts, aber auch gar nichts enthält, womit sie nicht einverstanden sein könnte. Aber genug für heute, für heute seien Sonnenschein, Meer und Freude das Programm.
    30 . Dezember 2006  Seit zwei Tagen auf Madeira, seit zwei Tagen liegt der Berliner Winter hinter mir, seit zwei Tagen Sommer, der gemäßigte Süden mit allen seinen Freuden. M. genießt die Sonne, das Wasser, das Schwimmbecken. – Noch in Berlin: die neue Lust, wieder mit der Hand zu schreiben. Das führt zunächst nur zu Chaos, solange sich noch kein Heftsystem, keine Rangordnung der Hefte usw. herausgebildet hat. – Die
Letzte
arbeitet in mir, ungeachtet aller Zweifel. – Als ich das
Trivialtagebuch
las, hatte ich den seltsamen Eindruck, daß ich gewollt oder ungewollt (und eher ungewollt) doch gute Prosa geschrieben habe.
    31 . Dezember 2006  Madeira. Strahlender Sonnenschein, Maiwärme. Schon jetzt denke ich widerwillig an die Heimkehr, die Kälte. Nachts in alten Tagebüchern blätternd kam mir der Gedanke, den dritten Teil der
Letzten Einkehr
mit langen Passagen aus der
Geheimdatei
und den anderen Tagebüchern zu füllen. Ein epischer Mahlstrom langer, großer Absätze.

2007
    1 . Januar 2007  Neujahr. In der Nacht die Schiffe in der Bucht. Um Mitternacht ertönten sämtliche Schiffshörner. Ich weiß nicht, warum das Ganze derart ergreifend war; auch Magda kamen fast die Tränen. Wir küßten uns, und auch das war ergreifend. Inzwischen ist alles ergreifend. Ich weiß nicht, wann es zu gehen heißt. In jüngeren Jahren sagte ich: Sterben? Ja, einmal wird der Augenblick kommen, da ich sterben darf. Heute würde ich es anders formulieren; heute hänge ich stärker am Leben und finde

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