Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
in der Schreibtischschublade auf mich warten wie lange vergessene Dinge aus der Vergangenheit, die man von hier nach da räumt und von denen man das Gefühl hat, daß sie einem immer im Wege sind; und öffnet man sie, flattert daraus die vergiftete und überreiche Vergangenheit hoch wie ein Schwarm darin hausender Motten.
18 . November 2006 Vorgestern Lesung in Darmstadt. Gestern abend mit der Bahn nach Berlin zurück. Unendliche Müdigkeit, auch Magda. – Zweite Auflage der deutschen Ausgabe von
Dossier K.
…
20 . November 2006 Unausgeschlafenes Vegetieren. Ein Brief von Szilárd Borbély. Die abscheulichen Zustände «daheim». «… eine kranke Gesellschaft, die ihre Mitglieder krank macht», schreibt er.
21 . November 2006 Das Alter erfordert täglich mindestens zwei Stunden von mir. Ungefähr soviel Zeit vergeht mit dem Anziehen der Schuhe, der Suche nach der ewig verschwundenen Brille und ähnlichen Freuden. Andererseits gewinne ich zwei, drei Stunden durch meine Schlaflosigkeit.
22 . November 2006 Ich habe ein paar Absätze in diesem Tagebuch zurückgeblättert und entsetzt völlig unverständliche Zeilen entdeckt. Sicher stand ich unter dem Einfluß der Parkinson-Medikamente, als ich sie niederschrieb; schöne Aussichten für die Zukunft. – Gestern auf Einladung von Grimm ein Abendessen im Wissenschaftskolleg. Eine kleine, aber sehr gute Gesellschaft. Man erkundigte sich sehr vorsichtig nach meiner Arbeit, und ich antwortete sehr vorsichtig auf alle diesbezüglichen Fragen. Hier kennt man meine Werke, spricht mit Respekt und Liebe von ihnen. Es wurde gesagt, und das höre ich nicht zum ersten Mal, daß viele junge Leute durch meine Bücher verstanden hätten, was man die «deutsche Vergangenheit» nennt. Während ich unaufhörlich das Gefühl habe, daß in der Sprache, in der ich schreibe, niemand etwas verstanden hat. – Um die Welt zu verstehen, muß man Schuld auf sich laden; wäre das und nur das der Kern meiner Inspiration bei der Lot-Geschichte?
23 . November 2006 Mich hat eine krankhafte Hilflosigkeit erfaßt. Leere Tage. Magda in Amerika. Ich stöhne unter der Last meiner Depressionen.
24 . November 2006 Ein Schiff, das den Kurs verloren hat; ich schlingere hierhin und dorthin … Früh aufgewacht und allein. Der Tod schleicht um mich herum, ich lebe bereits mit dem Gefühl des Verlusts: Kertész’ Verfall schmerzt mich, es gäbe noch so viele Dinge, so viele Freuden, die auf ihn warten … Ich weiß nicht, warum ich mich dem Selbstmitleid hingebe, statt Schluß zu machen mit dem enervierenden Sich-damit-Abfinden – womit eigentlich? Letztlich geht es auch jetzt, wie immer, um meine Kreativität, die stockende beziehungsweise entschwundene Kreativität … In der Nacht Bartóks 3 . und 4 . Streichquartett gehört und in
Malte Laurids Brigge
gelesen … (Die drei Punkte als aus dem Stadium des endgültigen Zusammenbruchs gesendetes und um eine nicht existierende Gnade flehendes Schrift-oder besser Lebenszeichen.)
25 . November 2006 Der Computer war abgestürzt. Gerade wollte ich diesen einsamen, bedrückenden Tagen ein vages Denkmal setzen (sie zu beschreiben ist unmöglich), als der Computer aussetzte und der ungespeicherte Text verschwand. Ich lasse also aus, was er (der Computer) von sich aus rausgeworfen – oder besser ausgespien – hat, und berühre nur eben die von existentieller Verunsicherung erfüllte Stimmung der vergangenen Stunden. Kurz: Ich erwachte in meinem Bett, die Uhr zeigte sechs Uhr vierzig. Nach meiner Überzeugung war es Morgen. Gewisse Merkwürdigkeiten weckten allerdings meinen Argwohn, zum Beispiel, daß die Sonne nicht aufging. Als ich mir daraufhin die Gewißheit verschaffte, daß ich mich um 12 Stunden geirrt hatte, vermochte ich diese Tatsache erst nach langer Zeit und mit Hilfe verschiedener Beweise zu akzeptieren – glauben aber kann ich sie bis jetzt noch nicht.
Inzwischen ist der verlorene Text wiederaufgetaucht, er lautete: Diese bedrückenden, einsamen Tage können ja nicht spurlos vorübergehen. Vorgestern entdeckte ich in meiner Leiste dieses dunkle, unheilvolle Gebilde; seitdem verabschiede ich mich gleichsam vom Leben.
26 . November 2006 Als sei nicht ein Tag, sondern als seien Monate zwischen zwei Eintragungen vergangen. Halten wir fest: Es ist Sonntagabend, die Zeit: Dreiviertel neun. Ich lebe in einer Art halbohnmächtiger Betäubung, am liebsten würde ich gar nichts machen, um mich aber nicht vor mir selbst schämen
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