Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
meine Bemühungen, die das Gewand dieser Sprache tragen, vergeblich sind.» – Im übrigen der überwältigende, überraschende Erfolg von
Dossier K.
hier in Deutschland.
1 . November 2006 Gestern Abendessen mit Esterházys bei Diekmann. Düstere Stimmung wegen der Budapester Ereignisse. Meine privilegierte Situation: Ich kann bleiben, sie aber müssen «nach Hause» zurück. In dem Zusammenhang spüre ich einen leisen Groll; E. erwähnte beiläufig, über mich sei «nicht nur Blödsinn geschrieben worden» – auf einen entsprechenden Satz im
Dossier
bezogen, in dem ich meine Kritiker «abwatsche». Dem entnahm ich, er hätte gern, daß ich eine bessere Beziehung zu Ungarn unterhielte. Hätte gern, hätte gern, aber das wird nicht gehen …
3 . November 2006 Am Morgen Mahlers 3 . Symphonie hörend: Wo gibt es noch eine Kultur, die das Leben so zu feiern versteht, wie es Gustav Mahler in der 3 ., in Zarathustras Mitternachtslied tut? …
Lust will Ewigkeit … Ewigkeit
… Und glücklich hörte ich mir auch den bombastischen Schluß an. – Ich sehne mich nach Arbeit. Aber alles fällt mir aus der Hand.
4 . November 2006 Frühmorgens vier Uhr. Vorbereitungen auf den nächste Woche beginnenden Wahnsinn (Lesungen). Unsicheres Weltgefühl. Müdigkeit, Vergeblichkeit.
Dossier K.
ist in Ungarn auf verlorenem Posten. Inwieweit steckt Absicht hinter dieser Tatsache, und welche und wessen Absicht wäre es, wenn es so wäre? Meine Emigration scheint nicht nur unwiderruflich, sondern auch allseits erwünscht zu sein. Hinzu kommt, daß mein Werk in der Sprache, in der ich schreibe, nur unvollständig zugänglich ist (so zögert man, einen vollständigen Essayband herauszugeben, wie es etwa der deutsche Verlag getan hat). Und dabei das heuchlerische Gefasel, das ich ohne Wimpernzucken hinnehmen und so tun muß, als billigte ich die verlogenen Argumente.
5 . November 2006 Ein luzider Sonntagvormittag? Ich weiß nicht, doch von einem offenbar übergeordneten Bewußtsein ist als Befehl die Nachricht eingetroffen, daß ich – wenn überhaupt – nur
Die letzte Einkehr
schreiben kann, unter wie unersprießlichen Umständen auch immer …
7 . November 2006 Sitze schon die zweite Nacht in beglückende Tätigkeit vertieft: Ich führe fort, was Iris Radisch «Lebensroman» nennt, und schreibe an der
Letzten Einkehr
.
8 . November 2006 Die ganze Nacht an der
Letzten Einkehr
gearbeitet. Nach mehreren Jahren des Zögerns strecke ich die Waffen (oder nehme sie auf – wie man will); ich muß einsehen, daß ich nur bis zu einem gewissen Grad Herr meiner Themen bin und
Die letzte Einkehr
zu schreiben einfach unumgänglich ist, wenn ich das Schreiben nicht aufgeben will. Und warum sollte ich das wollen, wenn ich mit dieser Arbeit das
Werrrrk
vollenden kann – jawohl, das Werk; gibt es etwas Schöneres, als dem Requiem eine mystische, erschütternde und ein wenig dunkle Partie hinzuzufügen? Dieses kleine Buch wird die Krone … aber lassen wir das; wer spricht von Siegen?
10 . November 2006 Morgens halb sechs. Gestern abend Lesung in der Philharmonie – in der Berliner Philharmonie! –, mit Pierre-Laurent Aimard als Klavierbegleiter; ein ergriffener Vortragender, ein ergriffenes Publikum. Am Vortag der Preis der Deutschen Gesellschaft, noch am selben Abend der Film über Barenboim: Ich war tief beeindruckt.
11 . November 2006 Früher Morgen, halb vier. Am Abend Lesung in der Freien Universität. Das war’s? Das war’s.
13 . November 2006 Ich suche nach Möglichkeiten, um mir Notizen zu machen (Zettelei). Auf den Computer kann ich mich nicht verlassen, ich muß es auf die alte Art, mit handschriftlichen Zetteln versuchen. Zum Beispiel: 1 . Der Bettler, 2 . Die Geschichte Lots, 3 . Die letzte Einkehr:
Das ist nun die letzte Einkehr,
der letzte Stuhl, der letzte Grog,
eine zitternde Hand erhebt das Glas,
Dämmerung bricht an,
wie ein böses Reptil kriecht aus den Winkeln
das Dunkel hervor.
14 . November 2006 Im handschriftlichen Tagebuch von 1997 Eintrag am 11 . Januar: «Ja, es soll mal eine Spur davon geben, daß ich gestern, am 10 . Januar,
Ich – ein anderer
abgeschlossen habe …» usw. Ein anderer, unter dem Datum vom 25 . Oktober 1995 : «Wenn wir zu schreiben beginnen, können wir nur von der Hypothese eines unversehrten Geistes ausgehen. (Womit ich nichts anderes gesagt habe, als daß es ständig schwerer wird zu schreiben …)» – Ich muß diese beiden alten Hefte lesen, die stumm
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